Vor zehn Jahren, am 16. Juli 2014, starb der Regisseur Manfred Wekwerth. 1951 als Darsteller und Leiter einer Laienspielgruppe von Brecht entdeckt, wurde er noch im gleichen Jahr sein Regieassistent und „Meisterschüler“. Nach Brechts Tod wurde Wekwerth 1960 Chefregisseur des Berliner Ensembles. Er promovierte an der Humboldt-Universität und gründete das „Institut für Schauspielregie“, an dem er auch eine Professur übernahm. 1977 wurde er Intendant des Berliner Ensembles und blieb es bis 1991. Für ihn als engagierten Kommunisten war es selbstverständlich, in seinem Staat, der DDR, auch politisch zu wirken: als Präsident der Akademie der Künste von 1982 bis 1990, als Mitglied des Zentralkomitees der SED von 1986 bis 1989.Mit einer solchen Biographie geriet man nach der Einverleibung der DDR in die BRD ins Abseits. Wekwerth wurde verleumdet, sein Schaffen abgewertet. Obwohl – oder gerade weil – Wekwerth in seiner Haltung stets konsequent blieb, war er einer der angesehensten Theaterregisseure Europas. Er arbeitete unter anderem in den skandinavischen Ländern, in Griechenland, der Türkei und in Kuba.
Der DKP war Manfred Wekwerth verbunden durch Auftritte auf den UZ-Pressefesten – gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Renate Richter – und den Kulturforen der DKP. „Unsere Zeit“ unterstützte er als Autor und als kompetenter Ratgeber in Kulturfragen.
Seine Arbeit ist untrennbar mit dem Werk Bertolt Brechts verbunden. Im Februar 2004 hielt er in Havanna die Eröffnungsvorlesung des Brecht-Colloquiums anlässlich der Internationalen Buchmesse. Darin stellte er sich der Frage: Brechttheater – eine Antwort auf unsere Zeit?
Das Manuskript des Vortrags – das wir hier gekürzt abdrucken – hat er UZ zur Verfügung gestellt. Es ist eine Einladung, über Brecht und das Theater nachzudenken, sich nicht mit platten Antworten zufriedenzugeben und dann – vielleicht – zu der Frage zu kommen: Welches Theater soll man in diesen Zeiten denn bitte sonst machen?
Unsere Zeit ist mehr und mehr von einem bedenkenlosen Aktionismus befallen, der von rigoroser Effektivität, bedeutungslosem Erfolgszwang und Einsparung jeglicher Verschwendung, wie der an Gedanken und Geduld, geprägt ist. Man gibt Antworten, bevor die Fragen gestellt sind. Man verkündet Resultate, bevor überhaupt geforscht wurde. Man nennt etwas richtig oder falsch, gut oder böse, nicht, weil man es als solches erkannt hat, sondern um es vorhandenen und gewünschten Erkenntnissen anzupassen. Unternehmungen von Tragweite bedürfen nicht mehr irgendwelcher Begründungen, da sie auch unternommen werden, um Begründungen zu finden. Was Wirklichkeit ist, entscheidet seine Wirksamkeit. In der Wissenschaft führt so etwas zur Lächerlichkeit. In der Politik zur Katastrophe, deren aktueller Ausdruck der Präventivschlag ist.
Kaiser Wilhelm musste 1914 noch auf die Schüsse von Sarajewo warten, um Serbien, das ihn seit Langem störte, anzugreifen. Selbst Hitler brauchte noch den Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz, den er mit deutschen Soldaten, als Polen verkleidet, selbst inszenierte, um in Polen einzumarschieren und den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.
Heute sind solche Gründe überflüssig. Der Krieg selbst ist Grund genug, da man ihn braucht, auch um Gründe zu finden Und selbst wenn keine Gründe gefunden werden, ist das noch lange kein Grund, mit dem Krieg aufzuhören, da man mit Bedacht und in vorchristlich-manichäistischer Weise die Welt in Gut und Böse eingeteilt hat und sich selbst die Rolle des Guten zudachte, ständig bedroht vom Reich des Bösen und der Schurken. Und wer soll einen Angreifer, der das Gute ist, hindern, sich gegen sein Opfer, das Böse also, zu wehren? Im Gegenteil. Da der Gute nicht nur das Recht des Guten, sondern auch des Stärkeren hat, hat er auch das Recht, sich Beschützer seines Opfers zu nennen und von ihm – wie in guten alten Zeiten im Chicago der Prohibitionszeit – Schutzgeld zu verlangen, heute in Gestalt von Öl, Freihandelszonen, Militärbasen und Willigkeit.
Einer der Gründe, warum ich die Frage, ob Brechttheater eine Antwort auf unsere Zeit ist, nicht sofort beantworte, ist Brecht selbst. Brecht hasste die schnellen Antworten. Selbst wenn er eine Antwort gefunden hatte und sie gefiel ihm, zog er sie immer wieder in Zweifel, gerade weil sie gefiel. Er nannte es die „kritische Haltung“, die nicht nur ein Schlüssel seines Denkens und Verhaltens, sondern auch seines Theaters ist. Den Zweifel nannte er ein Grundanliegen der Gattung Mensch, der die Menschwerdung erst ermöglichte und noch heute ermöglicht. Dem Lob des Zweifels widmete Brecht einige seiner schönsten Gedichte. Aber an einer Stelle des Stücks „Galileo Galilei“, die zumeist nur für einen naturwissenschaftlichen Disput gehalten wird, gibt Brecht, wie selten, unmittelbar Auskunft über seine ganz persönliche Methode, die Welt zu erkennen und zu verändern. Es ist die 9. Szene, in der Galilei, trotz des Verbotes durch die Inquisition, seine Forschungen wieder aufnimmt. Von seinen Schülern zur Eile gedrängt, seine Meinung zu den kürzlich entdeckten Sonnenflecken zu sagen, die den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde beweisen würden, antwortet Galilei:
„Meine Absicht ist nicht zu beweisen, dass ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob. Ich sage: Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr in die Beobachtung eintretet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen, welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber annehmen, dass es Fischschwänze sind. Ja, wir werden alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluss, den Stillstand der Erde nachzuweisen. Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig und hoffnungslos gescheitert und unsere Wunden leckend in trauriger Verfassung, werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht! Sollte dann aber jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht haben und doch reden. Nehmt das Tuch vom Fernrohr und richtet es auf die Sonne!“
Beginnen wir also unsere Überlegungen zum Brechttheater nicht damit, dass wir sagen, Brechttheater ist eine Antwort auf unsere Zeit, was uns gelegen käme, sondern schreiben wie – dem Rat Galileis folgend – an die Tafel: Brechttheater ist von der Zeit überholt. Und suchen wir nach möglichst guten Einwänden, die das belegen könnten.
Einwand Eins:
„Brechtheater ist eine Verarmung und Vereinseitigung des Theaters, da es eine politische Lehranstalt für Ideologen sein will, um das Publikum gefährlich zu verführen. Unsere Zeit aber braucht auch auf dem Theater keine Ideologien mehr, sondern den ästhetischen Disput über Widersprüche in der Welt.“
Da dieser Einwand von einem Großen des europäischen Theaters, Peter Brook, kommt, möchte ich die Gegenfrage stellen: Was ist eigentlich Brechttheater? Ist es ein Theater, das nur Brecht spielt? Dann wäre das Berliner Ensemble, auch zu Brechts Zeiten, kein Brechttheater, denn es spielte mehr Stücke anderer Autoren als die von Brecht. Schon die zweite Premiere nach der Gründung 1949 war „Wassa Schelesnowa“ von Maxim Gorki, es folgten „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz und „Der Biberpelz und Roter Hahn“ von Gerhart Hauptmann.
Vielleicht sind die Lehrstücke von Brecht das, was man unter Brechttheater versteht, denn in den Lehrstücken wird weitgehend auf das „Kulinarische“, wie Brecht den Theatergenuss zu dieser Zeit nannte, zugunsten der Belehrung verzichtet. Abgesehen, dass die Lehrstücke Brechts Reaktion auf eine Zeit offenen Klassenkampfes gegen den Faschismus waren, in der nichts nötiger als politisches Wissen gebraucht wurde, sind selbst die Lehrstücke keine „Lehranstalten, die das Publikum durch Ideologien gefährlich verführen“ wollen, da sie nicht zur Belehrung des Publikums, sondern der Spieler gedacht waren. Widersprüche auf der Bühne darstellend, sollten die Spieler den Umgang mit Widersprüchen im Klassenkampf lernen. Aber selbst das mit Freude am Spiel und nicht aus Belehrung.
Aber was ist nun Brechttheater? Bevor es etwas anderes ist, ist es Theater. Und Theater besteht – jedenfalls nach Brecht – darin, „dass lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung“. Hatte man erwartet, dass Brecht 1947, nach Deutschland zurückkehrend aus der Emigration, wieder zu den Lehrstücken greift, um Vernunft unter die besiegten und verwirrten Leute zu bringen, schreibt er gerade in dieser Zeit sein „Kleines Organon für das Theater“:
„Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, noch zu allgemeinerem Bedauern, nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen. Behandeln wir das Theater als eine Stätte der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik gehört, und untersuchen wir, welche Art der Unterhaltung uns zusagt.“ So weit Brecht im „Kleinen Organon“.
Spricht man von Brechttheater, sollte man beachten, dass auf diesem Theater keine Belehrung stattfindet, die nicht unterhaltsam ist. Es wird keine Philosophie geben und keine Politik, ohne den Spaß und das Vergnügen daran. Ja, Brecht ergänzte in den fünfziger Jahren die These, dass es auf dem Theater darauf ankomme, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern, mit folgenden Worten:
„Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muss die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren.“
Sieht man Brecht-Texte einmal nicht nur nach ihrem Inhalt durch, sondern nach der Methode statistischer Wahrscheinlichkeit, wie oft zum Beispiel bestimmte Wortwendungen vorkommen, wird man eine überraschende Entdeckung machen: Begriffe wie „erkennen“, „verändern“, „produzieren“ kommen selten allein vor. Es heißt fast immer das Vergnügen des Erkennens, die Lust zur Veränderung, der Spaß der Dialektik, die Leidenschaft des Produzierens, der Menschen, Dinge und Prozesse. Und so weiter.
Diese Begriffe werden bei Brecht merkwürdigerweise zumeist übersehen, weil das dem falschen Bild vom Rationalisten Brecht mehr entspricht. Man hält sich lieber an das „reine“ Wissen, die „reine“ Produktivität, die „reine“ Erkenntnis, die „reine“ Belehrung – ohne das Theater.
In den letzten Gesprächen, die ich im Herbst 1956 mit Brecht hatte, beklagte er sich bitter, dass man sein Theater „unnaiv“ betrachte. Als wolle er Theater durch Wissenschaft ersetzen. Dabei habe er doch die Wissenschaften hinzugezogen, nicht um das theatralische Vergnügen zu verringern. Im Gegenteil, er wollte es vergrößern. So wie Shakespeare zu seiner Zeit die neuesten Errungenschaften der Wissenschaften hinzuzog, um zu ganz neuen Leidenschaften, Späßen und Figuren zu kommen, die dem alten Theater abhandengekommen waren. Damals wurde der Plutarch aus dem Lateinischen das erste Mal ins Englische übersetzt. Shakespeare benutzte ihn sofort für seine Tragödie des Coriolan. Oder Thomas Morus, Verfasser der „Utopia“. Seine Lebensbeschreibung König Richards des Dritten (die übrigens eine Fälschung ist) verarbeitete Shakespeare sofort zu einem Stück, wahrscheinlich einem der bühnenwirksamsten Stücke überhaupt.
Aber auch Marx – so Brecht in jenem Herbst 1956 – sei ohne Begriffe wie Lust, Spaß, Genuss überhaupt nicht zu verstehen. Und auch bei ihm lese man gern darüber hinweg. Dabei stehe es in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie“ schwarz auf weiß: der Zweck der Gesellschaft und der Zweck des Menschen ist der Mensch selbst. Der Mensch ist Selbstzweck. Um dieses allerdings zu erkennen und zu erreichen, sei allerhand gesellschaftliche Anstrengung nötig. Doch Vergesellschaftung heiße ja nicht, den Menschen als einzelnen auszulöschen, sondern ihm die Chance zu geben, seine Individualität, also seine Verschiedenheit zu entwickeln und so, wie Marx sage, „zu der Universalität der Eigenschaften, Fähigkeiten, Genüsse usw. zu kommen“.
Ein Satz von damals ist mir noch im Gedächtnis, mit dem Brecht das Gespräch abbrach: „Marx und Gleichmacherei! Ein Blödsinn. Erst wenn alle auf gleicher Stufe stehen, wird man ihre Unterschiede bemerken.“
Bevor man also von Brechttheater redet, muss man wissen, es ist Theater gemeint. Vollwertiges Theater mit runden, vitalen, widersprüchlichen, poetischen Figuren. Als nach der Premiere des „Kaukasischen Kreidekreis‘“, bei der ich das Glück hatte, Ko-Regisseur von Brecht zu sein, die Darstellerin der Grusche, Angelika Hurwicz, entsetzt zu Brecht kam, weil das Publikum am Ende weinte, als der Armeleuterichter Azdak ihr das Kind der Gouverneurin zugesprochen hat, beruhigte sie Brecht: „Dann haben sie richtig gespielt.“ Das Publikum habe gegen seine eigenen Interessen geweint. Denn dieselben Leute würden doch in ihrem eigenen Leben kaum zustimmen, wenn Eigentum nicht mehr nach dem Erbrecht, sondern nach der Nützlichkeit verteilt würde. Dazu müsse man schon einiges erschüttern.
Die gesamte Vorlesung, in der Manfred Wekwerth noch fünf weitere Einwände gegen das Brechttheater behandelt, kann gelesen werden unter: uzlinks.de/wekwerthbrecht