Dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum 250. Geburtstag

Einfach und schwierig zugleich, wie die Welt

Vor Hegels Texten wird oft gewarnt. Zu kompliziert, sogar unbegreiflich sollen sie sein. Selbst Gelehrte, die Hegel verstanden zu haben meinen (und ihm entweder folgen oder ihn ablehnen), fallen einander ins Wort, wenn sie ihn erläutern sollen.

Andererseits aber werden Hegels Gedanken oft gerade von solchen Gelehrten gebraucht, um allerlei zu erklären. Dabei heißt „erklären“ doch: Etwas, das man nicht kapiert, auf etwas beziehen, das man schon kapiert hat (das neuartige Phänomen X wird beispielsweise als Begleiterscheinung oder Folge des bekannten Phänomens Y erklärt oder als Fall des bereits eingeführten Gesetzes Z). Seltsam: Wie kann Hegels Denken helfen, etwas zu erklären, wenn es selbst so undurchdringlich ist, wie vielfach behauptet wird?

Meine beiden aktuellen Lieblingsbeispiele für den Gebrauch Hegelscher Ideen zu Erklärzwecken findet man in zwei Wissensgebieten, die verschiedener voneinander nicht sein könnten: Quantenphysik und Theorie der Kunst.

Zum Ersten: Mehrmals durfte ich mich in den letzten Jahren drüber freuen, dass naturwissenschaftliche Fachleute mir oder anderen den quantenphysikalischen Begriff „Dekohärenz“ als einen Fall des von Hegel herausgearbeiteten Gesetzes vom „Umschlag der Quantität in die Qualität“ erklärt haben. Woher kannten diese Physikerinnen und Chemiker Hegel? Es sind gebildete Leute, keine Fachidioten. Hegel freilich wusste nicht, was „Dekohärenz“ ist, weil es zu seiner Zeit noch keine Quantenphysik gab. Sie handelt von Schwierigem: Die kleinsten bekannten Elemente der Wirklichkeit verhalten sich, hat diese Wissenschaft erkannt, nicht immer wie Teilchen, sondern manchmal auch wie Wellen. Aus winzigem Zeug, das so spinnt, sind jedoch Steine, Zeitungen und Menschen gemacht, die sich keineswegs wie Wellen verhalten. Wellen können „kohärent“ sein, einander überlagern, einander verstärken, abschwächen und so weiter. Alltägliche Sachen tun das nicht. Wie also werden diese alltäglichen Sachen aus dem Wellenzeug gebildet? Einfach: per Wechselwirkung mit mehr und mehr Zeug; man sagt, die Alltagswelt tauche aus der Quantenwelt „auf“, die Rede ist von „Emergenz“.

Hegel lehrt: Der Unterschied zwischen „Anzahl von Sachen“ und „Eigenschaften von Sachen“ ist nicht starr oder absolut. Wer drei Punkte hat, kann damit ein Dreieck zeichnen, wer sich einen Punkt mehr verschafft, kann ein Viereck aus dem Dreieck machen. Die Figur verliert die Eigenschaft („Qualität“) „ist dreieckig“ und gewinnt eine neue, „ist viereckig“, nur, weil sich eine Anzahl („Quantität“) geändert hat. Hegel schreibt: „Ein Korn macht keinen Haufen. Der Widerspruch ist, dass Eins Setzen oder Nehmen ebenso ins Entgegengesetzte, das Viele, übergeht. Eins Wiederholen ist Setzen des Vielen; die Wiederholung macht, dass einige viele Körner zusammenkommen.“ Er fährt fort: „Wir trennen Qualität und Quantität immer voneinander. Dies Viele ist ein quantitativer Unterschied; aber dieser gleichgültige Unterschied der Menge, Größe schlägt hier endlich um in den qualitativen Unterschied. Diese Bestimmung ist von der größten Wichtigkeit, was jedoch unserem Bewusstsein nicht unmittelbar vorliegt.“

Die Mahnung des letzten zitierten Satzes ist sehr wichtig: Unsere gewöhnliche Denkroutine will das Kippen von unterschiedlichen, gar gegensätzlichen Aspekten einer Sache ineinander nicht gern wahrhaben. „Kein Haar“ ist eine Glatze, aber „ein Haar“ ist noch keine Frisur, „viele Haare“ sind dann eine: das Gegenteil einer Glatze.

Wer Unterschiede und Gegensätze beim Schauen und Denken in Bewegung hält, wie Hegel rät, findet sich im Handeln besser zurecht, etwa im Klassenkampf.

Da gibt es zum Beispiel den Gegensatz zwischen „ökonomischem“ und „politischem“ Streik. Das Rechtssystem im Kapitalismus duldet ab und zu Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen, mehr Werkssicherheit, schönere Entlohnung und dergleichen. Solche Kämpfe nennt dieses Rechtssystem „ökonomisch“. Streiks im Streit ums Gewaltmonopol, die Besitzordnung, die gesellschaftliche Macht, die es „politisch“ nennt, verbietet es.

Wenn nun aber ein einzelner Laden stillsteht, weil sich Ausgebeutete per Arbeitsverweigerung gegen lebensgefährliche Schinderei wehren, ist das nur vordergründig ein ökonomischer Streik, denn sobald sich genug Leute in anderen Läden, gar anderen Branchen anschließen, geht’s nicht nur Richtung Generalstreik, sondern auch Richtung Politik. Quantität ändert Qualität, deshalb muss da dann auch die Koordinationsarbeit qualitativ anders werden (als etwa: rein gewerkschaftlich).

Von der Physik über die Philosophie bin ich auf genau der Spur nun zur Ökonomie und Politik gelangt, auf der ich auch zu meinem zweiten aktuellen Lieblingsbeispiel für die Nutzung von Hegels Erklärvermögen gelangen werde, nämlich indem ich Vergleich und Unterscheidung miteinander ausbalanciere: Muster, die Hegel benannt hat, zeigen sich ähnlich (Vergleich), aber anders (Unterscheidung) wie in Physik, Philosophie, Wirtschaft und Politik auch in der Ästhetik.

Gerade eben, im Juni 2020, ist im Verlag der Harvard University ein Buch namens „Theory of the Gimmick. Aesthetic Judgment and Capitalist Form“ erschienen. Die Verfasserin, eine Englischprofessorin an der Universität von Chicago namens Sianne Ngai, gilt als Marxistin. Tatsächlich ist ihr Kunstbegriff materialistisch, denn sie legt die Diskussion zeitgenössischer ästhetischer Urteile bewusst und konsequent als Untersuchung von psychosozialen Folgen des Lebens im Kapitalismus an. Sie weiß, was ein Wert, ein Preis, eine im gesellschaftlichen Durchschnitt für die Erzeugung eines Dings notwendige Arbeitszeit ist, und sie spricht aus, dass der Kapitalismus „kollektiv vollbrachte Abstraktionen und eine seltsam asoziale Gesellschaftlichkeit erzeugt“. Unter „kollektiv vollbrachten Abstraktionen“ versteht Ngai hier Sachen wie den „Arbeitsvertrag“, in dem die Ausbeutung durchs Kapital abstrakte Form annimmt (abstrakter jedenfalls als die Peitsche des Sklavenhalters oder der Grund und Boden, auf dem Leibeigene schuften).

Vom Design der Google-Brille bis zu audiovisuellen Tricks in Fernsehserien ordnet Ngai in „Theory of the Gimmick“ ein Fülle künstlerisch oder kunsthandwerklich produzierter Effekte in die „asoziale Gesellschaftlichkeit“ des Kapitalismus ein. Die Methode dafür hat sie, wie Ngai selbst sagt, bei Marx und Hegel gelernt. Von ihnen weiß sie, dass das Wissen über eine konkrete Sache oder einen Sachverhalt zwar oft als Abstraktion (zum Beispiel: Definition, Fragestellung …) anfängt, von da aus aber den Gegenstand durchdringen und von ihm durchdrungen werden kann. Gelingt das, dann ist der abstrakte Anfang kein Schaden (anders als der sogenannte Neopositivismus glaubt, der nur von konkreten „Erfahrungen“ und „Messungen“ reden will. Lenin hat diese Lehre in „Materialismus und Empiriokritizismus“ scharf bekämpft, weil Verleumdung der Abstraktion dem Denken schadet).

Das Konkrete (zum Beispiel die DVD eines Films) ist, sagen Hegel und Marx, die Einheit vieler abstrakter Bestimmungen („ein Film“, „ein Ding aus Plastik“, „eine Ware“, „ein Kunstwerk“). Zahllose von der Bourgeoisie geförderte Ideologien zwischen Uni und Massenmedien wollen uns heute freilich weismachen, das Abstrakte sei undurchdringlich und, weil es begrifflich ist, weltfern, während man dem Konkreten nie recht trauen dürfe (da ja jede Wahrnehmung für Irrtum und Täuschung anfällig ist). So wird dann, wie Ngai schreibt, eine Lüge plausibel gemacht wie die, das moderne Finanzwesen sei, weil es mit Abstraktionen (Finanzprodukten, Termingeschäften et cetera) wirtschaftet, „nicht darstellbar“ und letztlich auch nicht verstehbar. Ngai fügt sich dieser Vernebelungstaktik nicht, sondern zeigt in ihrem Buch, dass man ein vertracktes Gebilde (zum Beispiel Thomas Manns „Zauberberg“ oder den Film „It Follows“) ebenso klar auf Struktur und innere Dynamik hin durchleuchten kann, wie das eine ordentliche marxistische Analyse mit dem Finanztreiben hinkriegt, wenn man nur den richtigen Schlüssel hat. Der ist Hegels größter Grundsatz: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend“.

In seiner „Wissenschaft der Logik“ warnt er davor, die Welt so zu denken, „als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität“, das heißt: als ob es nur darauf ankäme, was ein Ding „ist“, statt vielmehr darauf, welche Spannungsverhältnisse im Ding leben. Die Feststellung, dass irgendetwas dies oder das sei, „ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins“, der Widerspruch hingegen ist „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit“.

Das sind keine Begriffsdichtereien. Das ist Wirklichkeit: Die deutsche Katastrophe des Jahres 1923 etwa bestand für die KPD und die Internationale darin, dass mitten in Ruhrgebietskrise und Wirtschaftschaos einerseits die Sozialdemokratie als Kraft entlarvt werden musste, die den Klassenkampf behindert, andererseits aber eine breite Front gegen den aufkommenden Faschismus nötig wurde, inklusive SPD. Die taktische Dynamisierung dieses Widerspruchs gelang damals nicht halb so gut, wie den Bolschewiki die eines sehr ähnlichen Widerspruchs gelungen war, als sie einerseits die Wahrheit über die Menschewiki sagen und andererseits mit denen zusammen den Sieg des mörderischen Reaktionärs Kornilow verhindern mussten.

Jede ernste politische Tätigkeit hat es mit solchen Widersprüchen zu tun. Hegel nennt sie „dialektisch“. „Dialektik“ bedeutet eigentlich Gesprächskunst.

Hegel aber fand das Uneinige nicht nur im Gespräch, als Streit, sondern in der Natur (die Raupe im Kokon ist ein Schmetterling und zugleich keiner – diese Art, etwas zu sein und nicht zu sein, nennen wir „werden“) wie in der Gesellschaft.

Dialektik will gelernt und geübt sein. Hier freilich lauert einer der wenigen Widersprüche, die Hegel nicht auf eine neue Stufe übers Erbe der Philosophie hinaus hat emporentwickeln können: der zwischen Sachwelt und Denkwelt. Hegel fand zu Recht, dass die Welt der Vernunft zugänglich ist. Als er sie aber selbst „vernünftig“ nannte und damit für eine Selbstentfaltung des Geistes hielt, stellte er die dynamische Spannung still zwischen einerseits Ursachen, die ihre Wirkungen haben, egal, ob ein Mensch was tut, und andererseits Gedankenvoraussetzungen, die nur Folgerungen werden, wenn ein Mensch sie sich erarbeitet. Die korrekte Vermittlung dieses Gegensatzes ersetzte Hegel durch den (legitimen) Rausch kraftvoller Aneignung von Denkmöglichkeiten. Der erste Durchgang durch die Welt, die er „Geist“ nannte, die berühmte „Phänomenologie des Geistes“ (1807), liest sich teils wie im Fieber geschrieben. Zwei weitere Begehungen des Kosmos, die er unternahm, sind klarer, die „Wissenschaft der Logik“ (1812 bis 1816) und die „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1917). Sie reichern sein Finden und Folgern mit mehr und mehr Wirklichkeit an, das setzte sich fort bis zu seinem Tod. Die richtige Verbindung zwischen den beiden von Hegel leider nicht gleichermaßen ernst genommenen Seiten des Unterschieds zwischen Sachwelt und Denken ist aber die menschliche Praxis (auch als Denkpraxis). Wie es damit steht, liest man nicht bei Hegel, dafür in den „Thesen über Feuerbach“ (1845) von Marx und der leider Fragment gebliebenen „Dialektik der Natur“ (1873 bis 1883) von Engels sowie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1909) von Lenin.

Der historische Weg der Dialektik begann lange vor Hegel und reicht über Marx, Engels und Lenin hinaus. Man kann ihn in den drei Bänden des Werkes „Einheit und Widerspruch“ (1979) von Hans Heinz Holz im lehrreichen Detail studieren. Wer dialektisch denken und handeln möchte, soll das lernen und üben, gerade auch mit Hegels Hilfe – und wird dabei dialektischerweise erkennen dürfen, dass die Welt mit etwas Hegelkenntnis ebenso schnell verständlicher wird wie Hegel mit etwas Weltkenntnis.

Tipps zum Weiterlesen:

Dietmar Dath/Marlon Grohn
Hegel to go: Vernünftige Zitate
Verlag Neues Leben 2020
112 Seiten, 7 Euro

Dietmar Dath
Hegel. 100 Seiten.
Reclam Verlag 2020
100 Seiten, 10 Euro

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"Einfach und schwierig zugleich, wie die Welt", UZ vom 28. August 2020



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