Am 1. September 1989 begann Andrej Holm, 18 Jahre alt, eine Ausbildung bei der Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der Deutschen Demokratischen Republik. Sein Urgroßvater war im illegalen Militärapparat der KPD und kam im Faschismus ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Großeltern flüchteten in die Sowjetunion. Sein Vater wurde dort geboren und war Hauptmann bei der Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit.
Eines Tages kam einer seiner Kollegen zu Besuch. Der damals 14-jährige Andrej Holm und seine Eltern unterzeichneten eine „Bereitschaftserklärung“: Er sollte in ein „Bewerberkollektiv“ für militärische Berufe aufgenommen werden. Man fragt sich: Was war das für ein Sozialismus, der halbe Kinder wie für Kadettenanstalten rekrutierte? Ende Januar 1990 war die noch gar nicht richtig begonnene Laufbahn Andrej Holms zu Ende. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde aufgelöst.
Andrej Holm hat 2007 in der „taz“ diese Episode aus seinem Leben öffentlich gemacht. Gleichzeitig gab er eine politische Stellungnahme dazu ab: Er sei froh, dass so bald Schluss war und er nicht wurde, was er sonst wohl geworden wäre. Einen Staat von oben nach unten aufzubauen und zu halten, und dies auch noch durch einen Geheimdienst, sei schlimm. Er zog eine praktische Konsequenz: Ein Liberaler ist er nicht geworden, stattdessen ein parteiloser linker Basisaktivist. Er verband dies mit einem wissenschaftlichen Engagement: als Stadtsoziologe und Kritiker der Gentrifizierung. Mit seinen Analysen erwarb er sich großes Ansehen. Seit 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin.
Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 wurde er auf Vorschlag der neuen Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher (Linke), Staatssekretär. Danach begann die übliche Kampagne wegen seiner fünf Monate beim MfS. Er musste zurücktreten und wurde von der Universität entlassen.
Hans Globke war einer der beiden offiziellen Kommentatoren der Nürnberger Rassegesetze von 1935. Nach Gründung der Bundesrepublik wurde er Staatssekretär in Adenauers Kanzleramt und blieb dies bis zu seiner wohldotierten normalen Pensionierung.
Manche Leute meinen, hier werde zweierlei Maß angelegt. Sie irren. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Nachfolgestaat des Nazi-Regimes. Sie hätte nicht aufgebaut und betrieben werden können ohne die vielen Faschisten, die erst Hitler und nach 1949 anderen Kanzlern dienten. Also blieb Globke dort, wo er in dieser staatlichen und gesellschaftlichen Kontinuität hingehörte und weiterhin gebraucht wurde.
Die Deutsche Demokratische Republik – sie mag sonst gewesen sein, wie sie war – hat sich nicht als Fortsetzung des Deutschen Reichs verstanden. Sie war ein antifaschistischer Staat, der mit jenem gebrochen hat. Sie wurde nicht von Nazis aufgebaut, sondern – unter anderem – von Kommunistinnen und Kommunisten. Nach ihrem Ende wurden die von ihnen geschaffenen Grundlagen einer anderen Gesellschaft zu Abfall. Alles, was mit der DDR zu tun hatte, musste gelöscht werden. Wenn jemand gegen dieses Tabu verstößt, bricht Tollwut aus. Man erinnert sich an die Reaktionen auf Christel Wegners öffentliche Äußerungen zur DDR und auf Gesine Lötzschs Rede auf einer Rosa-Luxemburg-Konferenz der „jungen Welt“. (Richtig: ich spiele hier auch auf die damaligen Reaktionen in der Partei „Die Linke“ an.)
Der Kapitalismus hat den deutschen Faschismus und die liberale Demokratie hervorgebracht. Die DDR war der Versuch seiner Negation. Sie hat verloren. Dieser Logik entspricht es, dass Globke blieb und Andrej Holm gehen musste.
Also: Zweierlei Maß?
Nein. Einerlei Maß. Holms Sturz widerspricht nicht dem Muster von Globkes Beharrungsvermögen. Es handelt sich um die Kehrseite derselben Medaille.