Kolumbien: Friedensgespräche zwischen FARC und Regierung gehen voran

Eine zweite Chance auf Erden

Von Günter Pohl

Die Gespräche zwischen den revolutionären Streitkräften Kolumbiens und der Regierung des südamerikanischen Landes, die seit drei Jahren in Havanna stattfinden, haben eine weitere Hürde genommen. Am 15. Dezember wurde das Dokument „Integrales System von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholbarkeit“ unterzeichnet.

„Wie kann garantiert werden,

dass ehemalige Guerilleros nicht von

Todesschwadronen ermordet werden?“

Es handelt sich bei dieser Vereinbarung über die Opfer des seit 1948 währenden Konflikts und zu einer Sonderjustiz bei einem Ende des Konflikts um die vierte konkrete Vereinbarung, nachdem bereits Übereinkünfte zur Entwicklung der ländlichen Zonen, zur ungefährdeten und freien Teilhabe am politischen Geschehen in Kolumbien und zur Drogenanbauproblematik getroffen wurden. Das Thema „Ende des Konflikts“ ist als Teilaspekt ebenfalls bereits vereinbart, wird aber erst im letzten der sechs Punkte umfassenden Agenda festgelegt, der unter dem Titel „Umsetzung und Gültigkeit der Vereinbarungen“ firmiert. Darin wird zu der schwierigen Frage beraten, wie garantiert werden kann, dass sich die Massaker an in das zivile Leben wieder eingegliederten Guerilleros nicht wiederholen. Mehrfach hatten in den vergangenen Jahrzehnten Todesschwadronen unterschiedlicher Namen, aber immer von Großgrundbesitzern finanziert, massenhafte Morde an unbewaffneten Linken verübt.

Grundsätzlich gilt, dass „nichts vereinbart ist, bis nicht alles vereinbart ist“, also Einzelvereinbarungen juristisch wertlos sind. Aber es gibt mit der letzten Vereinbarung wirklich Grund zu Optimismus.

„Ohne Wahrheit ist keine Versöhnung möglich.“

Die FARC stellen in einer Erklärung vom 15. Dezember fest, dass der Konflikt mit den zahlreichen Opfern älter als ihre eigene Gründung (Mai 1964) ist und Konsequenz aus der Gewalt des herrschenden Blocks und der gesellschaftlichen Ungleichheit im Land. Die Arbeit der Konflikt- und Opfergeschichtskommission habe klar „die nicht zu leugnende Verantwortung des Staates für über siebzig Jahre inneren Krieg gezeigt“. Nötig war in den Gesprächen, so die Erklärung der FARC-Verhandlungsdelegation, einen autonomen juristischen Mechanismus zu schaffen, mit dem den Verpflichtungen Kolumbiens hinsichtlich des internationalen Strafrechts Genüge getan werden könne, wonach die Verantwortung von Kämpfenden und auch Nichtkämpfenden sowie der vielfältigen Staatsbediensteten überhaupt erst festgestellt werden kann. Nun sei das Recht auf Wahrheit im bezeichneten Rechtssystem nach oben gerückt; das ist nötig, weil ohne Wahrheit keine Versöhnung möglich sei. Der Frieden ist die Synthese allen Rechts und so aller Menschenrechte; und ohne Frieden seien diese nur einer privilegierten Minderheit zugänglich.

Während der monatelangen Verhandlungen zu diesem Punkt haben die FARC Kontakt zu allen denkbaren Gruppen gesucht, zu Opfern, Menschenrechtlern, Bauern, politischen Organisationen und Meinungs- und Gesellschaftsführern, um „unserem größten Wunsch, nämlich, dass alle Gruppen, die unter diesem langen Konflikt gelitten haben, sich mit dieser in der Geschichte der Friedensprozesse einzigartigen Vereinbarung identifizieren“, Geltung zu verschaffen.

Der vereinbarte Sonderjustizstatus betrifft alle, die direkt oder indirekt am Konflikt beteiligt waren und bislang unbestraft geblieben sind: Guerilleros, Politiker, Staatsdiener und Zivilisten, die den Paramilitarismus finanziert haben. Sie sollen ihre Verantwortung offenlegen. Gleichzeitig wird es eine Amnestie geben, weil es um eine Normalisierung des politischen Lebens in Kolumbien gehen muss: Wer das Recht auf Rebellion gegen Ungerechtigkeiten in Anspruch nahm, wird bei politischen Delikten straffrei ausgehen bzw aus dem Gefängnis entlassen. Gemäß internationalem Recht ist eine Amnestie jedoch für Staats- und Regierungsamtsträger nicht möglich. Darüber hinaus, so die FARC, wäre das auch für das Gewissen des Volkes inakzeptabel, da sich nie wieder die zivile Macht hinter den Streitkräften verstecken dürfe, um so ihre Verantwortung zu umgehen.

Besorgt sind die FARC, dass „in praktisch allen Friedensabkommen in Kolumbien und an anderen Orten der Welt – jenseits der umgesetzten Normalisierung der politischen Lage und der Wiedereingliederung der zuvor Aufständischen in das zivile Leben – die Übereinkünfte hinsichtlich wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungsmaßnahmen für das aus dem Ende des bewaffneten Konflikts hervorgehende neue Land systematisch verbrämt und nie ausgeführt wurden. Daher arbeiten wir unermüdlich weiter, auf dass die Ergebnisse dieses Prozesses tatsächlich erfüllt werden. Deshalb sind erstmals in einer solchen Vereinbarung sowohl Sanktionen als auch restaurative Justizmaßnahmen vereinbart worden.“ Damit sollen eigentlich nicht der Amnestieregelung unterstehende, aber zur Wahrheit beitragende Personen begünstigt werden, wenn wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen zu Gunsten betroffener Gemeinschaften vonstatten gehen.

Die Erklärung der FARC-Delegation endet mit einer optimistischen Abwandlung des letzten Satzes von Gabriel García Márquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“, indem sie von einer neuen und mitreißenden Lebensutopie schreibt, in der „niemand über andere bis hin zur Art des Todes entscheiden kann, wo die Liebe tatsächlich wahr ist und das Glück möglich, und wo die Stämme, die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilt waren, schließlich und für immer eine zweite Chance auf der Erde haben.“

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"Eine zweite Chance auf Erden", UZ vom 25. Dezember 2015



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