Die „Tour der Leiden“ ist wieder im Aufwind

Eine Tortur

Von Gretchen Kallenberg

Drei Eigenschaften braucht wohl der Mensch, der sich drei Wochen lang das Spektakel der „Tour de France“ reinzieht: Ein gehöriges Maß an Patriotismus, ein Faible für den eigenen Masochismus und das Ausblenden der Tatsache, einer rollenden Apotheke zuzuschauen.

Die ungebrochene Begeisterung von Millionen französischer Menschen, stundenlang am Straßenrand auszuharren, um in oft nur wenigen Minuten das rasende Feld der Radfahrer vorbeizischen zu sehen, kann nur verstehen, wer sich immer noch die „Grande Nation“ zu eigen macht. Bis zuletzt hatten die beiden Franzosen Julian Alaphilippe und Thibaut Pinot Chancen auf den Sieg, doch dann kam alles anders. Der eine kam nicht mehr so richtig über die Alpenpässe, der andere bekam einen Muskelfaserriss im Oberschenkel und musste absteigen. Patriotisch war und ist es auch in Kolumbien, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Tour de France hat mit Egan Bernal ein Landsmann die Radtour gewonnen. Mit 22 Jahren ist er der jüngste Sieger seit 84 Jahren, die Bilder der Public-Viewing-Plätze aus Bogotá und andernorts zeigten Massen von Fahnenschwenkenden. Auch in Deutschland stieg die Einschaltquote bei ARD und ihrem Ableger ONE täglich an, der Radfahrer Emanuel Buchmann aus Ravensburg, der es auf Platz 4 schaffte, holte Millionen vor die Glotze. Die glorreichen Zeiten der Dopingsünder Ulrich, Klöden, Zabel und anderer wurden ausgeblendet oder relativiert als „olle Kamellen“.

Aber warum ist so ein Radrennen eigentlich für den Zuschauer interessant? Es habe etwas Meditatives, und das herbeigerufene, herbeigesehnte Leidenspathos übt einen Sog aus. Dabei passiert über Stunden eigentlich nichts. Die Tour sei auch nicht wirklich spannend, man kann wunderbar nebenbei aufräumen oder sauber machen, auch mal eine Viertelstunde weggehen und zurückkommen, manche leisten sich auch ein wohltuendes Nachmittagsschläfchen – und trotzdem habe man nichts verpasst. Dennoch bleibt man dran. Das Schauen der Tour de France hat also etwas Meditatives. Ein möglicher Grund für diesen Sog ist, dass es sich beim Radfahren um eine sehr normale Fortbewegungsart handelt, die jeder kennt. Ein weiterer, dass das Leidenspathos, das auf dieser härtesten Radtour der Welt zur Schau gestellt wird, jede Vorstellungskraft übersteigt. In drei Wochen legten die Fahrer dieses Jahr 3 366 km zurück. Manche Etappen dauern fünf Stunden und das bei mehr als 35 bis knapp 40 Grad Hitze. Auf langen Abfahrten sind sie über 80 km/h schnell. Es gibt Bergstrecken mit acht bis zehn Prozent Steigung und das noch mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36 km/h. Selbst Steigungen mit 15 bis 18 Prozent werden noch mit 20 bis 22 km/h bewältigt. Vorgabe der jeweiligen Teamleitung: Alles riskieren, sich stundenlang quälen. Die müssen doch Schmerzen haben ohne Ende, denkt man. Aber nein, wenn die Etappe vorbei ist, wartet am nächsten Tag die nächste und man selbst ist auch wieder dabei. Geht nur mit einer Lust, sich selbst zu quälen.

Der französische Radfahrer Thibaut Pinot lag aussichtsreich auf einem vorderen Platz, dann musste er auf der 19. Etappe vom Rad. Wie sich ein Radfahrer eine solche Verletzung einfangen kann, ist schleierhaft. Eventuell zu viele „helfende“ Spritzen, um ihn fit zu halten, sind Spekulation. Die Tourleitung und natürlich die Sportjournalisten betonen ständig, Doping sei kein Thema mehr, die Kontrollen seien lückenlos. Wer aber sich diese „sportlichen Höchstleistungen“ bei aller Wertschätzung für Fitness und Leidensbereitschaft der Fahrer vor Augen führt, sollte gelinde gesagt seine Urteilsfähigkeiten überprüfen.

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"Eine Tortur", UZ vom 2. August 2019



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