Am 7. August vor 120 Jahren begann der Textilarbeiterstreik von Crimmitschau

„Eine Stunde fürs Leben!“

Randolph Oechslein

„Die Herrschenden schlagen zweimal ihre Opfer:/Mit Kartätschen und Bajonetten auf den Straßen/Und mit der Vernichtung des geschichtlichen/Bewusstseins der Geschlagenen,/mit Kanonen und Lügen.“ So beginnt die Revue der Theatermanufaktur Berlin im Jahre 2004 anlässlich des 100. Jahrestages des Streiks der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter für kürzere Arbeitszeit 1903/04 in Crimmitschau. Insgesamt 22 Wochen dauerte der Arbeitskampf, der am 7. August 1903 begann und am 19. Januar 1904 abgebrochen wurde. Wie in einem Brennglas bündeln sich in diesem Streik zentrale Fragen, die für die Arbeiterbewegung auch heute noch aktuell sind.

Die Vorgeschichte

Das Crimmitschau des Jahres 1903 war ein Zentrum der sächsischen Textilindustrie, der Boom-Industrie dieser Zeit. Es war eine Hochburg der Sozialdemokratie und einer im Deutschen Textilarbeiterverband (DTAV) gut organisierten Textilarbeiterschaft. Dem gegenüber standen die Textilbarone, die ihre Profitinteressen rücksichtslos durchsetzen wollten. Die Einführung neuer Maschinen und Techniken wurde von ihnen für einen Unterbietungswettbewerb genutzt: Nur wer bereit war, überlange Arbeitszeiten, ein irrwitziges Maschinentempo und Hungerlöhne zu akzeptieren, wurde eingestellt. Fünfjährige Verhandlungen über die Einführung des 10-Stunden-Tages waren an der starren Haltung des Unternehmerlagers gescheitert. Im Sommer 1903 eskalierte die Situation.

Ein Augenzeugenbericht

Die Sozialistin und Frauenrechtlerin Ottilie Baader schildert in ihren Lebenserinnerungen die Situation. „Selbst die durch eine Verordnung festgelegte Mittagszeit von 1 ½ Stunden für die Frauen, die nebenher auch noch einen Haushalt zu besorgen hatten, wurde nicht gewährt. Fiel es den Frauen ein, dieses Recht zu fordern, so wurden sie glatt entlassen. Die einstündige Mittagszeit reichte nur für sehr wenige, um zum Essen nach Hause zu gehen. Einrichtungen zum Kochen oder Wärmen waren aber in den Fabriken nicht vorhanden. Die gesundheitlichen Schäden waren nicht nur für die Arbeiterinnen selbst, sondern vor allem auch für die Kinder ganz ungeheuer. Starben doch vor Vollendung des ersten Lebensjahres 27,3 Prozent der Kinder, und von den anderen konnten sich nur wenige zu kräftigen Menschen entwickeln.“ (Aus: „Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin“, 3. Auflage J. H. W. Dietz Nachf., Berlin, Bonn 1979) Die Arbeitszeiten hatten es in sich: Montags bis freitags musste von 6.30 bis 19 Uhr und an Samstagen bis 18 Uhr gearbeitet werden.

Reichsweite Kraftprobe

Als am 25. Juli die Crimmitschauer Filiale des Textilarbeiterverbandes gegenüber dem örtlichen Fabrikantenverein eine Arbeitszeitverkürzung auf 10 Stunden, Verlängerung der Mittagspause auf eineinhalb statt einer Stunde und Erhöhung der Akkordlöhne um 10 Prozent fordert, signalisierten diese zunächst Entgegenkommen. Die angebotene Verkürzung der Arbeitszeit um eine halbe Stunde war allerdings eine Provokation. Unter dem Slogan „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“ begann die Auseinandersetzung.

Am 7. August 1903 kündigen insgesamt 600 Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter aus fünf Fabriken unter dem Vorbehalt, dass bei akzeptablen Verhandlungsresultaten die Kündigungen sofort zurückgenommen würden. Die Reaktion des Fabrikantenvereins kommt schnell und sie ist brutal: Die Crimmitschauer Textilunternehmer kündigen allen (!) Beschäftigten – ohne Vorbehalt. In 26 Spinnereien, 52 Webereien und vier Färbereien des Ortes ruhte die Arbeit. Von dieser Terror-Aussperrung sind etwa 7.000 Arbeiterinnen und Arbeiter betroffen. Der Arbeitskampf verliert zunehmend seinen lokalen Charakter und entwickelt sich zu einer reichsweiten Kraftprobe zwischen Gewerkschaften und dem Fabrikantenlager. Der Kampf um die Durchsetzung des 10-Stunden-Tages wird zur politischen Auseinandersetzung. Am 20. September 1903 kommt Clara Zetkin nach Crimmitschau und ruft dort zur reichsweiten Unterstützung des Streiks auf. Der Reichstagsabgeordnete August Bebel bringt den Crimmitschauer Streik am 10. Dezember im Reichstag zur Sprache und prangert die Unternehmerwillkür an.

Textilarbeiterinnen im Kampf

Bereits mit der Gründung des Crimmitschauer Textilarbeiterverbands wurden die Arbeiterinnen gleichberechtigt in die Verbandsarbeit einbezogen. „In besonderen Zirkularen wurden sie angesprochen. In den Fabrikversammlungen wurden sie veranlasst, ihre Anliegen vorzubringen. Ihren Auslassungen wurde besonderer Wert beigelegt und es war immer dafür gesorgt, dass bei den Männern keine Unaufmerksamkeit aufkam. In den Fabriken wurden sie in die von den Arbeitern geschaffenen Ausschüsse gewählt und so stärkten sich schon vor dem Streik ihr Selbstbewusstsein und das Vertrauen zu ihrer Organisation.“ (Aus: Udo Achten, „Das ist das Licht der neuen Zeit: Erinnerungen an den 22-wöchigen Streik der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter im Jahre 1903 für den 10-Stunden-Tag“, Klartext-Verlag, Essen 2004)

Die Aussperrung betraf nach Angaben Ottilie Baaders 3.126 Männer und 3.434 Frauen. Erstmalig „unterstützten“ nicht Frauen den Kampf der Männer, wie bei den bisherigen großen Streiks im Kaiserreich, sondern waren selbst Teil der kämpfenden Partei.

Der Staat ist nicht neutral

Sehr früh zeigten die Behörden, auf wessen Seite sie standen. Am 17. August wird der örtliche Streikleiter Jäckel aufgefordert, „zur Kontrolle“ Mitgliederlisten der Gewerkschaft in der Stadtverwaltung einzureichen. Versammlungen der Arbeiter werden durch die Polizei aufgelöst. Am 25. August wird durch eine Verordnung des Stadtrates „längeres Stehen“ in der Stadt verboten. Ausdrücklich wird das „Streikpostenstehen“ als darunter fallend bezeichnet und mit einer Strafe von 60 Mark oder 14 Tagen Gefängnis geahndet. Am 4. November wird ein „Königliches Gendarmarie-Corps“ nach Crimmitschau verlegt und am 4. Dezember wird über Crimmitschau der Belagerungszustand verhängt. Die Auszahlung der Streikgelder erfolgt unter polizeilicher Kontrolle. Schließlich werden auch alle Weihnachtsfeiern verboten, was eine Welle der Solidarität mit den Streikenden auslöste: Der Consumverein Leipzig-Plagwitz lieferte 7.000 Stollen an die Arbeiterfamilien. Insgesamt werden über eine Million Reichsmark an Spenden gesammelt.

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Postkarte von der Streikkolonne aus Crimmitschau vom November 1903 (Foto: © Deutsches Historisches Museum)

Der Gegner organisiert sich

„Auf den Rittergütern suchte man polnische Arbeiter anzuwerben. In Böhmen, in Ostpreußen, in Holstein, Rheinland-Westfalen, Bayern, Halle, Leipzig, Döbeln, Rußwein, überall versuchte man mit allerhand Versprechungen Streikbrecher anzuwerben.“ (Aus: „Blätter zur Erinnerung an Sachsens bedeutendsten Arbeitskampf“, hrsg. vom Hauptvorstand des Deutschen Textilarbeiterverbandes 1928, neu Düsseldorf 1990)

Der Erfolg blieb zunächst mäßig. Der DTAV hatte reichsweit eine Aufklärungskampagne dagegen organisiert. Mit Einschüchterung, Druck auf Familienmitglieder von Streikenden einerseits und mit Geldangeboten für „Arbeitswillige“ andererseits wurde versucht, die Streikfront zu brechen. Die Textilbarone erkannten, dass der Streik eine zentrale, überregionale Bedeutung hatte, und begannen sich zu organisieren. Nach Meinung des „Centralverbands deutscher Industrieller“ handelte es sich um einen Kampf „der gesamten deutschen Sozialdemokratie gegen die gesamte deutsche Arbeitgeberschaft um die Machtfrage“. „… dass die großen Industriellen in Rheinland-Westfalen, namentlich diejenigen der Eisen- und Stahlbranche, jetzt aus Veranlassung des Ausstandes in Crimmitschau ihren Standpunkt geändert haben. (…) Der Streik in der sächsischen Textilindustrie mit dem Schwerpunkt Crimmitschau 1903/l904 war somit nur das auslösende Moment für einen in der deutschen Arbeitgeberschaft schon seit längerem gereiften Entschluss zur Gründung einer Arbeitgeber-Dachorganisation.“ (Aus: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Stuttgart 1985)

Aus dieser anvisierten Dachorganisation der Arbeitgeberverbände ging später die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hervor. 1908 waren bereits 77 Organisationen der Kapitalseite mit 950.000 beschäftigten Arbeitern Mitglieder der Dachorganisation. Im von ihnen 1908 geschlossenen „Kartellvertrag“ heißt es in Paragraph 2: „Die Vertragschließenden verpflichten sich gegenseitig, darauf hinzuwirken, dass streikende oder ausgesperrte Arbeiter während der Dauer der Bewegung in den Betrieben der angeschlossenen Mitglieder keine Beschäftigung finden.“ (ebenda)

Das Ende des Streiks

Der vom Fabrikantenlager mit staatlicher Unterstützung brutal geführte Klassenkampf gegen die Crimmitschauer Textilarbeiterschaft brachte für die Kapitalseite die gewünschten Ergebnisse. Nach fünf Monaten war kein einziges der angestrebten Streikziele erreicht worden. Durch das Versammlungsverbot war keine kollektive Meinungsbildung unter den Kämpfenden möglich, eine Beschlussfassung der Mitgliedschaft über das weitere Vorgehen konnte es unter diesen Bedingungen nicht geben.

Für viele überraschend, beschließen die Gewerkschaftsführer Carl Legien und Karl Hübsch die bedingungslose Arbeitsaufnahme ab dem 19. Januar 1904. Eine Entscheidung, die unter den Streikenden durchaus umstritten war. Legien führt mehrere Gründe für den Abbruch an: Es gab Befürchtungen, dass die Streikfront im weiteren Verlauf bröckeln würde. Den Fabrikanten war es mittlerweile gelungen, in 80 Fabriken insgesamt 1.700 „Arbeitswillige“ als Streikbrecher einzusetzen. Die Befürchtung, dass der Streik an Wirkung verlieren könnte, war nicht völlig unbegründet.

Legien äußerte als zweiten Grund, „dass die Crimmitschauer Industrie zur Vernichtung geführt wurde“. (Aus: Udo Achten, „Das ist das Licht der neuen Zeit“) Viele der Crimmitschauer Textilbetriebe waren kapitalschwache Klein- und Mittelbetriebe. Etwa 40 Prozent von ihnen waren bereits zur Jahrhundertwende aufgrund fehlender Exportmöglichkeiten pleite gegangen. Nach dem Abbruch des Streiks verließen etwa 1.000 Mitglieder den DTAV. Was nach Enttäuschung über die vermeintliche Niederlage aussieht, hatte allerdings andere Gründe. Die von der Polizei beschlagnahmten Mitgliederlisten der Gewerkschaft waren die Grundlage für schwarze Listen in den Fabriken. Etwa 600 Kämpfende fanden in Crimmitschau keine Arbeit mehr. Um nicht zu verhungern, waren sie gezwungen, die Stadt zu verlassen. Gegen diese Terror-Maßnahme wandte der Crimmitschauer DTAV, um seine Mitglieder zu schützen, eine List an: Er löste sich kurzerhand auf. Die Mitglieder wurden als Einzelmitglieder direkt an die Berliner Zentrale des DTAV angeschlossen. So wurde die zwangsweise Herausgabe von Mitgliederlisten umgangen.

Unterlegen, aber nicht besiegt

Nach dem Streik ließen sich die Zehnstundenkämpfer gruppenweise fotografieren. Im Sonntagsstaat und mit erhobenen Häuptern stehen die Textilarbeiterinnen und Textilarbeitern vor ihren jeweiligen Betrieben. Auf keinem einzigen der erhalten gebliebenen Fotos ist Resignation oder Enttäuschung in den Gesichtern zu erkennen. „Bereits während seiner Laufzeit war der Streik zum Mythos geworden“, so Andrea Bergler, Leiterin des Westsächsischen Textilmuseums, 2004. Sank die Mitgliederzahl des DTAV zunächst „unter dem massiven Druck der Unternehmer um 1.000, so hat sie sich im Laufe der gesamten Auseinandersetzung mehr als verdoppelt. Im ersten Quartal waren es 2.450 Mitglieder und im zweiten Quartal 1904 bereits 5.182 Mitglieder.“ (Aus: Udo Achten, „Das ist das Licht der neuen Zeit“)

Und Ottilie Baader schreibt in ihren Memoiren: „Unterlegen, aber nicht besiegt war die tapfere Arbeiterschaft. Der Crimmitschauer Kampf um den Zehnstundentag war zu Ende, nun aber stand der Kampf um den gesetzlichen Zehnstundentag auf der Tagesordnung“. Der Kampf der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter schuf die Voraussetzung dafür. Vier Jahre später wurde die Gewerbeordnung novelliert und die gesetzliche Höchstarbeitszeit für Frauen auf zehn Stunden begrenzt.

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"„Eine Stunde fürs Leben!“", UZ vom 4. August 2023



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