„Ich habe den Kulturpalast geliebt!“ Die Worte scheinen aus der Zeit gefallen; sie sind es auch: Gemeint ist der Kulturpalast Bitterfeld, ein repräsentativer Kulturneubau der DDR, der 2017 vor dem Abriss stand, nun aber saniert werden soll. Siegrun Oleya, geboren 1949 in Bitterfeld, sprach mit dem Historiker und Soziologen Marc Meißner über die Bedeutung des Hauses für ihre Freizeit. Dort tanzte sie im Jugendballett und spielte Akkordeon. Bis heute lebt sie mit diesen Erinnerungen, die ihr Leben prägten. Ihr Gesprächspartner beschäftigte sich umfangreich mit dem „künstlerisch-kulturellen Zirkelwesen“ in diesem Haus und veröffentlichte darüber Anfang 2022 ein Buch.
Aber was könnte Ernsthaftes und Richtiges, Sachliches und Erhaltenswertes über das Kulturhaus, eines der bekanntesten der DDR, gesagt werden? Themen der DDR wie Volkskunst und Bitterfelder Weg wurden besonders für Hohn und Spott genutzt von jenen, die sich als Sieger wähnten und auch so handeln, bis heute. Das war und ist zu weit weg von dem, was sie unter Kunst und Kultur verstanden. Profit war nicht zu machen, vielmehr kostete das Volkskunstschaffen Geld. Einen Höhepunkt der Verurteilung erreichte der Politikwissenschaftler Günther Rüther, als er den „Bitterfelder Weg“ an der Weimarer Klassik messen wollte und feststellte: „Der ‚Bitterfelder Weg‘ war damit in einem wesentlichen Punkt gescheitert. Bitterfeld wurde zu keinem zweiten Weimar.“ (Günther Rüther: „Greif zur Feder, Kumpel“) Als hätte ein vernünftiger Mensch so etwas gefordert oder auch nur gewünscht. Bei dieser Einschätzung war jede weitere Beschäftigung mit dem Thema unnötig. Andere beendeten den Bitterfelder Weg, noch ehe er wirksam wurde: „Spätestens mit dem Bau der Mauer … war die kulturrevolutionäre Praxis des ‚Bitterfelder Weges‘ nicht mehr gefragt.“ (Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945) 1961 begann die Volkskunst sich zu stabilisieren, erreichte danach Höhepunkt auf Höhepunkt, von Volkskunstkonferenzen, Arbeiterfestspielen, Kunstwettbewerben und mehr begleitet; vieles aus dieser Praxis lebte nach 1989 weiter. Nun vergeht sie langsam; die Selbstlosigkeit, mit der die Menschen auf dem Bitterfelder Weg gemeinsam Erfüllung suchten, ist nicht mehr gefragt. Zeitzeugen werden seltener.
Ehe sie verschwunden sind, wollte Marc Meißner ihre Erfahrungen – aus über hundert Gruppen und fast 1.100 Teilnehmern in Bitterfeld – sichern. Er sammelte Dokumente, Protokolle; Berichte und Lebensläufe – sie wurden entscheidend, sind aber viel zu wenig. Der Verfasser kam trotzdem zu wesentlichen Ergebnissen: Er fand kein Weimar in Bitterfeld, aber eine erfüllte Zeit, die die Menschen durchlebten: „Ich vermisse heute noch die Zeit im Zirkel, vor allem die Menschen und unseren Zusammenhalt“, sagte Lore Dimter, geboren 1939, die in dieser Zeit zur Malerin wurde. Widerspruch oder Gegenteiliges zu solchen Einschätzungen hat Meißner nicht gefunden.
Hunderttausende fanden in der DDR Befriedigung durch Kunst und Literatur, die sie ausübten, schufen oder mindestens anregten, indem sie Texte schrieben, komponierten, malten und tanzten, fotografierten oder filmten – die Zahl derartiger Gruppen war riesig. Allein im Chemiekombinat Bitterfeld gab es 75 Zirkel. Sie reichten von A wie „Akkordeongruppen“ bis zu Z wie „Zirkel für …“, zwölf an der Zahl. Darunter war der bekannte Zirkel für bildnerisches Volksschaffen und der nicht weniger bekannte Zirkel schreibender Arbeiter.
Bedeutsam war das Chemiekombinat durch seine Volkskunstgruppen, historisch wichtig wurde es durch die Konferenzen 1959 und 1964, die als Bitterfelder Konferenzen in die Geschichte eingingen und von Volkskunstkonferenzen und Arbeiterfestspielen und anderen Großereignissen bis 1989 begleitet wurden.
Nun hat die Beschäftigung mit der Volkskunst in der DDR insgesamt ein erstaunliches Ergebnis aufzuweisen: die Arbeit von Marc Meißner. Bisher wurde das farbenfreudige und an Ergebnissen reiche Feld des gesellschaftlichen Lebens der DDR geleugnet, verfälscht oder totgeschwiegen und der Farbton „Grau“, auf den die gesamte DDR offiziell festgelegt werden sollte, verfestigt. Untersuchungen wie die vorliegende zerstören diesen absichtsvoll betriebenen Vorgang, indem sie „anstelle der normativ-offiziellen Seite die faktische, mikroperspektivische Dimension der Amateurkunstkollektive“ nutzten.
Schwierigkeiten entstanden dabei, eine davon: Manche Zirkel wirkten nicht durch bleibende Werke – Gedichte, Foto und Film, Bilder und ähnliches –, sondern reproduzierten Kunst (Chor, Tanz, Theater und so weiter) oder vermittelte Bildung, um Kunst zu verstehen und den Künstlern vorzuschlagen, was man von ihnen wünschte und erwartete. Es war etwa ein häufiges Missverständnis, dass die schreibenden Arbeiter die künftige Nationalliteratur schaffen sollten – wie man oft das Motto der 1. Bitterfelder Konferenz verstand und „Nationalkultur“ in „Nationalliteratur“ wandelte (Karl-Heinz Baum in der Frankfurter Rundschau vom 5. Mai 1992); mit dem gewollten Missverständnis ließ sich Bitterfeld ins Vergessen verabschieden. Das wurde leichter, denn die wichtigste Quelle versiegt allmählich, die „orale Geschichtsschreibung“: Zirkelmitglieder berichten über ihr Wirken, über Absicht und Erfahrung ihrer Wirklichkeit mündlich und schaffen für einen Historiker eine Materialbasis.
Die Schwierigkeiten hat Meißner mit seiner bemerkenswerten wissenschaftlichen Arbeit, einer Masterarbeit, an der er drei Jahre saß, bewältigt und dokumentierte das volkskünstlerische Schaffen objektiv. Die Arbeit entstand an der Hochschule der Bundeswehr in München. Die Untersuchung galt dem Zirkelwesen im VEB Chemiekombinat Bitterfeld und war betitelt „Greif zur Feder, Chemiefacharbeiter!“. Unterstützung erhielt der Verfasser von der Soziologin Teresa Koloma Beck und von Historikern der Bundeswehrhochschule. – Ergänzungen und Bestätigungen finden Interessenten inzwischen in „Kulturelle Teilhabe in der DDR“ (in „Kulturelle Bildung online“), Studien auch zum Volkskunstschaffen in der DDR, geschrieben von erfahrenen Fachleuten auf diesem Gebiet, auch aus der DDR.
Wie schwer es neue, eigentlich längst bekannte Erkenntnisse bei Kunst und Kultur gegen eine herrschende, lange propagierte Abwertung und Delegitimierung haben, zeigt ein Bericht einer Journalistin zu Meißners Arbeit, die den Autor unterstützte, in der „Mitteldeutschen Zeitung“. Ihrem Bericht über die Arbeit merkt man an, wie schwer es ihr fiel, die Ergebnisse anzunehmen. Verzweifelt suchte sie nach dem „Bösen“ und „Grauen“: Sie fand das Gedicht „Greppiner Schlaflied“, das verboten worden sei, weil es den „Abgaswind“ in Bitterfeld nannte. Man kann das Gedicht „Vor dem Fenster“ des schreibenden Arbeiters Ernst Zober aus Leuna dagegensetzen, das „rauchwälzende Schlote“ beschrieb und oft gedruckt wurde. Trotz der Kritik an der Umweltverschmutzung wurde es nicht verboten. Auch ging das Volkskunstschaffen nicht in den Massenorganisationen auf, wie die Journalistin meint, und „letztlich als untauglich“ im Klassenkampf wurde das Volkskunstschaffen nirgends gesehen, im Gegenteil. Die Journalistin wollte nicht wahrhaben, was Marc Meißner über die Volkskunst der DDR feststellte: Sie bot „den Menschen kostenlose Möglichkeiten zur Auslebung ihrer kreativen Neigungen, zur leistungsorientierten Amateurkunst, Erholung vom Alltag, Weiterbildung, Kommunikation unter Gleichgesinnten als auch zu sozialen Kontakten“.
Marc Meißner: Greif zur Feder, Chemiearbeiter! Eine empirisch-historische Fallanalyse zum künstlerisch-kulturellen Zirkelwesen im VEB Chemiekombinat Bitterfeld.
Berlin: LIT VERLAG 2022, 164 S., 29,90 Euro