Betrachtung zu den UZ-Friedenstagen

Eine Paul-Dessau-Melodie und die Friedensmission der DDR-Kultur

Ich bin eine Ostpflanze. Geboren in der Sowjetischen Besatzungszone und aufgewachsen in der DDR. Alles im Berliner Prenzlauer Berg, wo sich irgendwann in den 1950er Jahren die Tür meiner Grundschulklasse auftat und ein junger Mann, er nannte sich Laiendarsteller, für eine Schüler-Agitpropgruppe warb. Mit Straßenauftritten sollte sie die westdeutschen Aufrüstungspläne entlarven und die Passanten ins Lager des Friedens führen. Fast alle von uns wollten mitmachen, aber nur die Hälfte der Klasse wurde genommen. Wir lernten eine Melodie von Paul Dessau, der Verse von Jens Gerlach vertont hatte: „Wir wollen Frieden auf lange Dauer / Nieder mit Strauß, nieder mit Adenauer /… Das ganze Deutschland stimmt mit uns ein: / Wir wollen frei von Atomwaffen sein.“ Die Musik hatte einen ordentlichen Drive. Wir sangen mit Inbrunst. Die Leute blieben stehen, ein Jahrzehnt nach dem Weltkriegsende brauchte sie niemand ins Friedenslager zu ziehen. Da waren sie allzumeist. Nur als wir uns in den weißen Pionierblusen, den Atomtod andeutend, aufs Straßenpflaster warfen, meinten besorgte Hausfrauen: „Kinder, steht auf, das müssen eure Mütter doch wieder waschen.“ Aber der Schmächtigste aus unseren Reihen antwortete noch im Liegen: „Egal, der Atomtod ist viel schlimmer.“ Wie die Dessau-Melodie habe ich diese Szene niemals vergessen.

Frieden – DDR-Staatsräson

Wenn wir im Oktober an den 75. Jahrestag der DDR-Gründung denken, werde ich um weniges älter sein als das Land, das mir eine gute Heimat war. Sein Friedensstreben nenne ich als wichtigsten Grund meines Engagements für das sozialistische Wagnis im deutschen Osten. Dieses Streben richtete sich nach innen wie nach außen. Nach innen – Gisela Steineckert nannte es den „einfachen Frieden“ – war es die Bewahrung gesellschaftlicher Vorzüge wie Vollbeschäftigung, Brechung des Bildungsprivilegs, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Verhältnisse von menschlicher Nähe, die Empathie förderten und Ellenbogenmentalitäten eindämmten, angemessene Daseinsfürsorge für jedermann, Teilnahme an einem reichen kulturellen Leben. Dem inneren Drang nach Frieden und Solidarität stand der äußere gleich – die Verbundenheit mit allen Friedenskräften in der Welt. Wir waren an der Seite der kubanischen Revolution, der Befreiungskräfte Vietnams, der chilenischen Patrioten. Wo die alte Bundesrepublik mit US-geprägter „geostrategischer Nachsicht“ vor Terrorregimen die Augen verschloss oder sich in inhumanem Appeasement übte, standen wir an der Seite der Opfer. Die DDR führte nie einen Krieg. Der westdeutschen Hallstein-Doktrin zum Trotz wurde die DDR international anerkannt und agierte in der Weltarena als aufrechte Vertreterin eines Systems friedlicher Koexistenz, orientierte sich an den Maßgaben internationaler Konflikteindämmung und Abrüstung. Ihr Antifaschismus war beispielhaft. Während in der Nachkriegs-BRD der kapitalistische Drang nach Systemerhalt auf braune Expertise nicht verzichten wollte und mittels KPD-Verbot die noch starke Phalanx westdeutscher Kommunisten in ein Déjà-vu mit der alten Gesinnungsjustiz – nun in neu parfümierten Talaren – zwang, wurde schon vor Gründung der DDR im Osten der Nazikader konsequent aus Regierungsbehörden, Polizei, Volksbildung und Chefetagen der Wirtschaft entfernt. Anfang 1947 waren das bereits 300.000 Entlassene.

Die Kindheitserlebnisse um die Dessau-Melodie in Erinnerung, blieb das Friedensthema für meinen Freundeskreis und für mich prägend bei der Rezeption von Kunst, später auch bei eigenen künstlerischen Versuchen. Wir sangen „Kleine weiße Friedenstaube“ oder „Wer möchte nicht im Leben bleiben?“ – Lieder, die mich in ihrer ehrlichen Schlichtheit bis heute anrühren. Ich denke an Peter Hacks‘ schönen Songtext „Die Oliven gedeihn“ aus dem Stück „Der Frieden“. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihn zum ersten Mal hörte. So wie die meisten Zuschauer im Deutschen Theater, von denen viele noch die Kriegsjahre kannten. Der in die DDR übersiedelte kanadische Folk-Sänger Perry Friedman brachte uns die amerikanischen Friedenshymnen nahe. In meiner Autobiografie schrieb ich, dass selbst die Tapeten in unseren Gesang zur Klampfe hätten einstimmen können, so oft hatten wir „We shall overcome“, „Down by the riverside“ oder „Where have all the flowers gone?“ auf den Lippen.

Und dann schrieben wir eigene Verse und Songs. Trafen uns im Hootenanny-Klub, der sich später zum Oktoberklub mauserte oder im Lyrik-Song-Klub Pankow. Es gab Schülerwettbewerbe „Wir lieben das Leben“, überfüllte Lyrikabende und Ausscheide junger Talente. Das Friedensthema war und blieb zentral. Zwei meiner Songs, die ich mir als kaum 18-Jähriger abgerungen hatte und bis heute im Repertoire halte, waren von dieser einfachen Youngster-Sprache, die man als Erwachsener nie mehr hinkriegt. „Schön ist der Frieden, wenn du seiner sicher bist“ oder „Schau her, so wär die Welt, wenn Frieden wär“ sind Zeilen daraus. Und als wir mit den Eindrücken vom Deutschlandtreffen 1964 „Team 4“, die erste deutschsprachige Beat-Band der DDR, gegründet hatten, war ein Friedenslied der Titelsong ihrer ersten LP „Die Straße“ – das Bild vom Weg zu einer friedlichen, sonnendurchfluteten Stadt, in der die besten Menschheitsideale aufgehoben sind.

Der Blick nach nebenan

Natürlich schauten wir nach nebenan. Wir sahen, wie die Ostermarsch-Bewegung erstarkte. Das Foto als Zeitzeuge: Fasia Jansen und Dieter Süverkrüp mit dem Hannes-Stütz-Lied „Unser Marsch ist eine gute Sache“ unterwegs. Wegen seiner zunehmenden Brisanz singe ich das Lied gerade wieder: „Du deutsches Volk, du bist fast immer / für falsche Ziele marschiert. / Am Ende waren nur Trümmer. / Weißt du heute, wohin man dich führt? / Nimm dein Schicksal in die Hand, / Steck den Kopf nicht in den Sand, / Und lass dich nicht mehr verführen!“ Das geht doch direkt in Richtung Pistorius-Hauptquartier und sollte das Zeug zum Revival haben, wo die Hälfte der Deutschen und drei Viertel der Ostdeutschen, jüngsten Umfragen zufolge, die Pläne zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ablehnen. Ach wie tief greift die Sehnsucht, die Friedensbewegung in der größer und weltpolitisch anmaßender gewordenen Bundesrepublik möge wieder die Stärke der alten kleineren gewinnen. Man denkt an den Krefelder Appell vom November 1980, den nach einem halben Jahr 800.000 und 1983 bereits vier Millionen Bundesbürger unterzeichnet hatten. Man wird an die fulminanten Follow-up-Veranstaltungen erinnert, an denen so viele namhafte Künstler der BRD sowie europäische und überseeische Gäste mit ihren Friedensbotschaften beteiligt waren. Unvergessen die Bilder vom Oktober 1981, als Heinrich Böll zu den Hunderttausenden Demonstranten auf dem Bonner Hofgarten sprach. Weil wir allein schon über das jährliche Festival des politischen Liedes enge Kontakte zur progressiven Songszene der BRD hatten, lernten wir von den lockeren, kommunikativen Veranstaltungsformen der westdeutschen Friedensbewegung, vor allem von ihren Open-Air-Events, eine Menge. Der FDJ-Liedersommer in der Berliner Parkaue, die seit 1982 veranstaltete Veranstaltungsreihe „Rock für den Frieden“, Friedensfeste der FDJ auf dem Berliner Bebelplatz, wo der Karat-Hit „Der blaue Planet“ uraufgeführt wurde, oder später die internationalen Rockkonzerte in Berlin-Treptow (Barclay James Harvest; Bob Dylan) und Weißensee (Joe Cocker, Bruce Spring­steen, Bryan Adams, James Brown, Rainbirds, Heinz Rudolf Kunze oder Hannes Wader) gehen auch auf diese Inspirationen zurück. Selbst der DDR-Auftritt Udo Lindenbergs am 25. Oktober 1983 im Palast der Republik erinnerte an sein Dortmunder Plädoyer für den Krefelder Appell, wo er in seinem eindringlichen Lied „Wozu sind Kriege da?“ eine Kinderstimme mahnen ließ: „Ich fürchte mich in diesem Atomraketenwald.“

Der Blick nach nebenan hieß für uns auch: Protest gegen eskalierende Aufrüstungspläne auf westdeutschem Boden. Der NATO-Raketenbeschluss war ein konkreter Anlass, und da kam wieder die alte Dessau-Melodie ins Spiel. Gerd Kern hatte den Text aus den 50er Jahren für den Oktoberklub aktualisiert: „Wir wollen Frieden auf lange Dauer. / Fort mit dem Krieg! Stellt den Kampf vor die Trauer! / Gegen die Bomben, gegen Raketen. / Wir haben nur den einen Planeten. / … Im Namen der Menschheit, die weiterleben muss: / Weg mit dem NATO-Raketenbeschluss!“ Der Drive hielt. Das Remake sang sich weit herum.

Natürlich war die Song-Bewegung, in der ich mich vor allem zu Hause fühlte, nur ein Segment des kulturellen Alltags in der DDR. Der Friedensgedanke war für alle anderen genauso eminent. Mag es bis heute manche berechtigte Klage über die seinerzeitige Durchsetzung von Kunstwerken gegen verengte Kulturauffassungen geben, in zwei Dingen herrschte wohl immer Konsens: In den Friedensauffassungen als künstlerisches Grundthema sowie in der Wertschätzung der materiellen Bedingungen für das künstlerische Schaffen und dessen Rezeption in der DDR. Belege für Ersteres würden in ihrer Fülle diese Niederschrift sprengen. Zu erwähnen ist jedoch, wie engagiert sich Künstler mit aktuellen Stellungnahmen in die Zeitgeschichte einmischten: Brecht zum 17. Juni 1953, Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun und andere 1989 mit ihrem Aufruf „Für unser Land“, Stephan Hermlin bei von ihm initiierten internationalen Friedensbegegnungen von Geistesschaffenden. Zu den materiellen Möglichkeiten nur so viel: Zu Beginn der 1970er Jahre war die Zahl der Museumsbesucher auf 20 Millionen und die der Klubs und Kulturhäuser auf 35 Millionen gestiegen. Mehr als 655.000 Bürger hatten die VII. Kunstausstellung der DDR in Dresden gesehen. Gegen Ende der 1980er Jahre gab es in der DDR 68 Theaterbetriebe mit etwa 200 Spielstätten, die jährlich 700 Neuinszenierungen und fast 1.400 Übernahmen zu stark subventionierten Eintrittspreisen auf die Bühne brachten. Mit dem Palast der Republik, der Semper­oper in Dresden, dem Leipziger Gewandhaus, dem Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt oder dem hochmodern konzipierten Friedrichstadtpalast waren der darstellenden Kunst neue Spielstätten erschlossen worden. Und was die Jugend betrifft: Mitte der 80er Jahre waren zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen Leser der öffentlichen Bibliotheken und 70 Prozent der Kinobesucher Jugendliche über 14 Jahren. Ein reichliches Drittel des Theaterpublikums und 70 Prozent aller Aktiven in den 48.000 Volkskunstkollektiven waren junge Leute. Zur gleichen Zeit besaßen 86,3 Prozent der Lehrlinge den 10-Klassen-Abschluss einer Polytechnischen Oberschule, jenes international beachteten Schultyps, der hinsichtlich seiner pädagogischen Fundierung und Praxisnähe keine Pisa-Schelte zu befürchten gehabt hätte. Die Friedensliebe des Volkes und seiner Jugend hatte also etwas zu verteidigen.

Ertüchtigung zum Frieden, nicht zum Krieg!

Der Staat, in dem das Wirklichkeit war, ist von der Weltkarte gedrängt. Nicht verschwunden ist sein Erbe. Materielle und ideelle Zeugnisse einer reichen, dem Frieden zugewandten Kultur haben sich der Nationalkultur des größer gewordenen Landes angeboten. Da mögen sie nun unbequem reiben und die Kassenwarte des altbundesdeutschen Kulturbetriebes reizen. Aber neues, oft jüngeres Interesse fragt nach ihnen und entdeckt manche Andersartigkeit gar als Vorzug. Hier ist Vernünftiges zu erben. Nicht zuletzt die Besinnung auf die Friedensmission der Kunst. Die Zeiten sind danach, dass diese Besinnung Raum greift und wieder Massen auf die Straße bringt. Und da ist sie erneut, die elektrisierende Dessau-Melodie. Zum vergangenen Berliner UZ-Pressefest hatte ich einen aktuellen Text vorgetragen: „Wir wollen Frieden, / die Sehnsucht von allen. / Volk, musst was tun, / die Ampel ist ausgefallen. / Stoppt falsche Kriege! Schickt nicht Kanonen! / Vertraut der Vernunft von Millionen, / die noch durchsehn und ihre Ängste schrein: / Wir stehn am Abgrund, und Frieden muss sein!“

Kein friedensbewegter Agitproper kommt damit heute durch eine Klassentür. Er hat Hausverbot. Dafür erscheint ein Rekrutenwerber aus dem Hause Pistorius. Da, wo ich lebe, höre ich Leute sagen, so hätten sie die „friedliche Revolution“ nicht gemeint. Späte Erkenntnis.

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"Eine Paul-Dessau-Melodie und die Friedensmission der DDR-Kultur", UZ vom 23. August 2024



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