Krieg: Der neu entdeckte Roman von Louis-Ferdinand Céline erstmals in deutscher Übersetzung

Eine namenlose Erschöpfung

Dean Wetzel

Ferdinand bekommt den Krieg nicht mehr aus dem Kopf. Niedergeschossen liegt er am Boden und die Konturen seiner Glieder zergehen langsam im Blut mit der Umwelt. So unvorbereitet und plötzlich, wie er vom Angriff übermannt wird, werden auch die Leser in die Handlung des Roman geworfen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen klugen dramaturgischen Kniff des Autors, sondern um ein Rückbleibsel der selbst schon romanwürdigen Geschichte dieses Buches, von der Niklas Bender im Vorwort berichtet.

Eine Geschichte, in der Célines Pariser Wohnung von Résistance-Kämpfern besetzt wurde, die er dann ab 1951 – nach seiner Rückkehr aus dem dänischen Exil – beschuldigte, seine Manuskripte vernichtet zu haben. Darunter das Manuskript zum 1934 entworfenen Roman „Krieg“. Nachdem er über den Verbleib der Manuskripte in Kenntnis gesetzt wurde, beschuldigte er sie noch immer, dabei hätte er nur die Rechnung des Möbellagers bezahlen müssen. Unverbesserlich, wie Céline war, hat er sich aber besser in der Rolle eines Opfers der Résistance gefallen. So kam es, dass erst am 6. August 2021 in „Le Monde“ von der großen Entdeckung der rund 6.000 Manuskriptseiten berichtet wurde. Der Verbleib der ersten zehn Seiten des nun erstmalig in deutscher Übersetzung vorliegenden Romans konnte jedoch nicht aufgeklärt werden.

Und so werden die Leser schon auf der ersten Seite schonungslos und in aller Drastik mit dem Überlebenskampf des delirierenden Ferdinand konfrontiert. Ein Effekt, der Célines Literatur durchaus nicht widerstrebt. Kurz darauf fallen die entscheidenden Sätze: „Der Krieg hat mich im Kopf erwischt. Er ist in meinem Kopf eingesperrt.“

Eindringlich zeigt Céline, wie der Krieg nicht nur zum inhaltlich bestimmenden, sondern auch zum strukturgebenden Moment eines traumatisierten Menschen wird. Wenn Ferdinand den Krieg nicht mehr aus dem Kopf bekommt, dann nicht nur, weil er ständig von Erinnerung überwältigt wird, sondern weil all sein Denken zu einem Denken des Krieges wurde. „Niemals, so viel stand fest, würde ich mehr das Leben der anderen führen, das Leben all dieser Arschlöcher, die glauben, Schlaf und Stille wären ein für alle Mal garantiert.“

Schwer verwundet gelangt Ferdinand in ein Krankenhaus. Doch auch dort findet er keinen sicheren Rückzugsort: Die Grausamkeiten des Krieges schlagen sich im Alltag nieder und die Front ruft in vielen Stimmen. Er lebt in ständiger Angst, erneut eingezogen oder doch vielleicht wegen Verrats gerichtet zu werden. Unerwarteterweise wird er dann mit einer Ehrenmedaille für Tapferkeit ausgezeichnet. Auch das unter fadenscheinigen Gründen. Rational lässt sich hier nichts erklären. Doch er nimmt es, wie es kommt.

Nachdem jedoch die Betrugsmasche – die er gemeinsam mit einer bekannten Prostituierten geplant hat – sich in eine andere Richtung entwickelt als erwartet, findet er sich in einer Ménage-à-trois mit ihr und einem schottischen Soldaten wieder. Als dieser vorschlägt, sie mit nach Britannien zu nehmen, sieht Ferdinand seine Chance, dem Krieg zu entkommen, und besteigt das Schiff, in dem nun all seine Hoffnung liegt: „Die Stadt kauerte sich dahinter. Dann verschmolz auch sie mit dem Meer. Und alles kippte in die Kulisse der Wolken und die gewaltige Schulter der offenen See.“

Célines Sprache ist von einem Flirren durchzogen, in dem sich Bilder verschränken und Sätze türmen, deren Eindrücklichkeit den Leser zu erschlagen droht. Dieses Flirren ist dabei bewusst nicht auf eine realistische Darstellung angelegt. Es will keine Zusammenhänge aufzeigen, nicht die Gründe und Umstände des Krieges durchleuchten, sondern möchte im Sinne eines literarischen Impressionismus einen subjektiven Eindruck des Krieges schildern. Die Eindrücke, die Céline auch persönlich im Ersten Weltkrieg durchlebte und die ihn zu einem widerspruchsvollen Pazifisten, aber auch Antisemiten prägten. Er will die ihm unergründlichen und unerschöpflichen Grauen des Krieges literarisch bannen und über den Krieg hinaus erfahrbar machen. Und auch wenn es sich nicht um einen seiner stärkeren Romane handelt, schafft er in einigen Passagen durchaus, diese eindringliche Wirkung zu erzielen.

Louis-Ferdinand Céline
Krieg
Rowohlt Verlag, 192 Seiten, 24 Euro

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"Eine namenlose Erschöpfung", UZ vom 20. Oktober 2023



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