Der Pflege, vor allem der stationären Langzeitpflege zum Beispiel in Altenpflegeeinrichtungen, liegt eine systemische Lüge zu Grunde. Denn die Leistungen der Pflegeversicherung werden nach vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen anerkannten Pflegegraden bemessen. Gepflegt werden soll nach Standards, die das „Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege“ (DNQP) festlegt. Es handelt sich dabei um eine von der Praxis weit entfernte akademische Expertenkommission mit Sitz in Osnabrück. Diese sogenannten „Expertenstandards“ sind hochkompliziert formuliert und enthalten Ideen und Versprechungen darüber, was nach Meinung der „Experten“ gute Pflege ausmacht.
Sie behaupten, dass es nach dem aktuellen Prinzip der Finanzierung und vor allem mit den aktuellen gesetzlichen Vorgaben möglich ist, entsprechend diesen Expertenstandards und dem tatsächlichem Bedarf zu pflegen.
Das ist eine Lüge. Die Wahrheit ist, dass „Schule“ und Praxis, Expertenstandards und Wirklichkeit zwingend völlig verschiedene Dinge sind – egal in welcher Pflegeeinrichtung. Woran liegt das?
Kurzgefasst könnte man sage, dass die Ursache die chronische Unterfinanzierung der Pflege ist. Für die zu leistende Arbeit ist die Personalbemessung heute völlig ungenügend gesetzlich geregelt. Bis zum heutigen Tag gibt es keine verbindliche gesetzliche Regelung darüber, auf wie viele zu pflegende Personen wie viele Pflegekräfte kommen müssen. Was es bisher gibt, sind Vorgaben darüber, wie viele Stellen durch die Pflegekassen refinanziert werden. Und es gibt das Vertrauen des bürgerlichen Staates darauf, dass diese Stellen dann auch durch die Träger der Einrichtungen besetzt werden oder bei Ausfall für Ersatz gesorgt wird. Aber genau das ist in viel zu vielen Fällen nicht der Fall – denn das würde zusätzliche Kosten verursachen.
Tatsächlich bleiben Stellen, die refinanziert werden, unbesetzt. Entweder weil der Kostendruck hoch ist oder weil der Träger sich das Geld ohne Umschweife einstecken will. Vor allem aber werden tagesaktuelle Ausfälle beim Personal nicht ausgeglichen. Diese sind ein ständiges Problem. Dauerhaft hohe Krankenstände sind die Folge einer dauerhaft hohen Arbeitsbelastung durch Unterbesetzung: Ein Teufelskreis. Dass die Arbeit an und mit pflegebedürftigen Menschen von den verbliebenen Kolleginnen und Kollegen zu gleicher Qualität geschafft werden soll, ist ein tagtäglicher Wahnsinn.
Es herrscht ein immenser Kostendruck. Dem liegt eine politische Entscheidung zugrunde. Mitte der neunziger Jahre wurde beschlossen, einen privaten, ständig wachsenden Pflegemarkt in Deutschland zuzulassen. Seitdem sind privat geführte Häuser ebenso wie die Einrichtungen in freier Trägerschaft – wie etwa AWO, DRK oder kirchliche Träger – gezwungen, sich privat-kapitalistischer Logik zu unterwerfen.
In den Häusern besserer, fast immer „gemeinnütziger“ Träger führt das zu einer Situation, in der man häufig bedauert, nicht mehr Zeit im pflegerischen Kontakt zu haben, in der aber pflegerische Standards in Hygiene, Prophylaxen und Wundversorgung in der Regel gewährleistet sind. Darüber hinaus gibt es jedoch die Altenpflegeeinrichtungen, die von „privaten Trägern“ bewirtschaftet werden. Ihnen ist es im Unterschied zu freien Trägern ausdrücklich gesetzlich erlaubt, Profit zu machen. Das bedeutet, dass diese Träger einen größeren Teil der Versicherungsleistungen an Kapitalisten und Aktionäre weiterreichen. Damit sie dies können, müssen sie schlechtere Pflege für die Patienten bieten und schlechtere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten. Kaschiert wird das durch ein System, das in EDV und Akten dokumentiert, alles laufe fachlich korrekt und gesetzeskonform – man arbeite einfach „wirtschaftlicher“. Dabei reichen die bereitgestellten Mittel aus Versicherungsleistung und Eigenanteil selbst bei idealer Nutzung nicht. Die Bereicherung an der öffentlichen Daseinsvorsorge führt in solchen Häusern oft zu einer Praxis extremer Unterbesetzung und gesundheitsgefährdender Überarbeitung. Ständiges „Einspringen“ ist erforderlich, Beschäftigte werden dazu telefonisch massiv unter Druck gesetzt.
Die körperliche und geistige Gesundheit der zu Pflegenden wird hier ständig und kalkuliert in Gefahr gebracht. Wenn überhaupt, dann werden gesetzliche Vorgaben oft nur noch auf dem Papier erfüllt. In den schlimmsten Einrichtungen führt dies zu Dehydration, Unterernährung, Gewalt in der Pflege, hygienischer und sozialer Verwahrlosung sowie schweren Pflegefehlern in der Behandlungspflege. Dabei engagieren sich Kolleginnen und Kollegen in solchen Einrichtungen sehr für Team und Bewohner und wollen gute Arbeit leisten. Die Kapitalseite nutzt diese guten menschlichen Eigenschaften der Pflegenden perfide aus und wendet sie gegen die Belegschaft.
Die ständige Überforderung kann aber auch zur Abstumpfung führen. Dafür hat die bürgerliche Pflegewissenschaft schon einen Fachbegriff produziert: „Coolout“ – angelehnt an den eng verwandten Begriff „Burnout“.
Das System der Finanzierung und personellen Ausstattung der Pflege in Deutschland ist prinzipiell schwer mangelhaft. Selbst in diesem Mangel gibt es eine gravierende und extreme Abstufung: Zwei Welten. Eine Welt der nach dem Steuerrecht gemeinnützigen und öffentlichen Träger, in der trotz Kostendruck und unzureichender Finanzierung in vielen Fällen noch eine einigermaßen angemessene Versorgung möglich ist. Und dann die Welt „Privater“ – deren Verhältnisse man sich in den Dienstzimmern als Gruselanekdoten erzählt. Für die Beschäftigten ist es eine aufreibende Stätte der Ausbeutung, für unzählige alte Menschen ist es der Ort, an dem sie ihren traurigen Lebensabend verbringen müssen – und an dem jeden Tag ihre elementarsten Menschenrechte systembedingt schwer und anhaltend verletzt werden.
Darum muss über allem, was wir zur Pflege sagen und über die Pflege denken, eine Forderung stehen: Pflege in öffentliche Hand, unter demokratischer Kontrolle, zu nicht-kapitalistischen Bedingungen.