Walter Ulbrichts Überlegungen zur Entwicklung des Sozialismus auf eigener Grundlage

Eine lohnende Debatte

Anlässlich des 50. Todestags von Walter Ulbricht erschien in UZ ein Artikel, in dem auch sein prägender Beitrag zur Theorie und Praxis des Sozialismus gewürdigt wurde. Die Debatte um die Hauptgesichtspunkte der von ihm unterstützten Konzeption des Aufbaus einer ausbeutungsfreien Gesellschaft unter den speziellen Bedingungen der deutschen Nachkriegssituation reißt bis heute nicht ab. Das wird auch in Zukunft so bleiben, da die damaligen Debatten grundsätzliche Bedeutung haben. Nicht zuletzt deshalb, weil die Praxis bestätigt, was schon Friedrich Engels voraussah: „Die sogenannte ‚sozialistische Gesellschaft’ ist nach meiner Ansicht nicht ein ein für allemal fertiges Ding, sondern, wie alle andern Gesellschaftszustände, als in fortwährender Veränderung und Umbildung begriffen zu fassen.“

Neues Sozialismusbild

Die von Ulbricht maßgeblich vertretene Sozialismuskonzeption hatte ihren Ursprung in den konkreten historischen Erfahrungen insbesondere der Sowjetunion, den Bedingungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten des sozialistischen Aufbaus in der DDR sowie den Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin. „Es ging um nicht weniger“, beschreibt Harry Nick die Situation, „als um ein anderes Sozialismusbild: Der Sozialismus solle nicht mehr (…) als relativ kurze historische Durchgangsphase verstanden werden, in der die aus dem Kapitalismus überkommenen ‚Muttermale‘ Geldwirtschaft und Leistungsprinzip allmählich an Bedeutung verlören, wie in einem Fegefeuer abgezundert werden, um möglichst schnell zu den lichten Höhen des Kommunismus, zur eigentlichen kommunistischen Gesellschaft zu gelangen.“ Die SED folgte damit der Strategie des XXII. Parteitags der KPdSU im Oktober 1961 nicht. Ihre Gesellschaftsstrategie, die eine organische Verbindung der Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen Revolution mit der demokratischen Entwicklung des politischen Systems des Sozialismus in der DDR anstrebte, war nicht der Übergang zum Aufbau des Kommunismus, sondern die Entwicklung und Vervollkommnung des Sozialismus auf der ihm eigenen Grundlage. Auf dem VI. Parteitag der SED 1963 wurde das „Neue Ökonomische System“ (NÖS) auf den Weg gebracht, das später, wie Nick an anderer Stelle einschätzt, „in seiner zentralen Idee aus politischen Gründen scheiterte“.

Relative Selbstständigkeit

Aus der These der „Entwicklung des Sozialismus auf eigener Grundlage“ ergab sich die These vom Sozialismus als einer „relativ selbstständigen Gesellschaftsformation“. In schriftlicher Form tauchte sie zum ersten Mal im Juni 1967 im Artikel „Das ‚Kapital‘ – eine wissenschaftliche Gesellschaftsprognose“ von Nick auf. Die Formulierung, die nicht nur Nicks Idee war, wurde auch für das Referat empfohlen, das Ulbricht auf der Konferenz anlässlich des 100. Jahrestags des „Kapitals“ im September 1967 halten wollte. Nick berichtet, dass kaum jemand damit rechnete, dass Ulbricht sie übernahm. Dieser ging in seinem Referat von dem auf dem VII. Parteitag der SED formulierten strategischen Ziel aus, „das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus zu gestalten und so den Sozialismus zu vollenden“. Diese Zielstellung, hieß es weiter, verallgemeinere die Erfahrungen, die bei der Erfüllung des vom VI. Parteitag der SED beschlossenen Programms gesammelt wurden. Ulbricht bezeichnete es als „die wichtigste Schlussfolgerung“, zu der die Partei in diesem Zusammenhang gelangt sei, „dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbstständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab. Früher war es üblich, besonders ausgehend von Marx’ Bemerkungen zum Gothaer Programm, den Sozialismus nur als Übergangsphase anzusehen, in der sich die Gesellschaft von den ‚Muttermalen‘ des Kapitalismus freimachen und die materiellen und geistigen Voraussetzungen für die zweite Phase des Kommunismus schaffen muss. Es wurde wenig beachtet, dass der Sozialismus sich auf seiner eigenen Grundlage entwickelt. Die Bürde der kapitalistischen Vergangenheit erschwerte diese Einsicht.“

Gegenpositionen

In der „Prawda“ erschienen schnell die Einsprüche sowjetischer Ökonomen. Mit der sowjetischen Führung unter Leonid Breschnew hatte es sich Ulbricht gründlich verdorben, denn die Vorbildrolle der KPdSU und ihre Autorität wurden infrage gestellt. Auch in den eigenen Reihen stießen Ulbrichts Ausführungen auf Widerspruch, „wurden damit doch einige ‚heilige Kühe‘ geschlachtet und lang gehegte Illusionen zerstört“, wie Alfred Kosing zutreffend sagte. Erich Honecker führte im Bericht an den VIII. Parteitag der SED 1971 aus: „Zwischen Sozialismus und Kommunismus, die bekanntlich zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaftsformation sind, gibt es keine starre Grenzlinie. Auf der Grundlage der Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und ihrer materiell-technischen Basis wächst die sozialistische Gesellschaft allmählich in die kommunistische.“ 1972 ging Honecker noch weiter und geißelte öffentlich die These vom „Sozialismus als relativ selbstständiger Gesellschaftsformation“. Er erklärte, dass er selbst noch den Kommunismus zu erleben hoffe. All diese Kritik und dieses „Umschwenken“ bedeutete aber nicht, dass das Konzept der Vervollkommnung des Sozialismus auf eigener Grundlage und entsprechend seinen Gesetzmäßigkeiten, seine Formierung als organische Ganzheit, bis er „den ökonomischen, sozialen und geistigen Reifegrad erreicht hat, welcher den Übergang in die höhere Phase des Kommunismus ermöglicht“ (Kosing), nunmehr aufgegeben wurde. Das war objektiv unmöglich.

Übergangsperioden?

3910 Bundesarchiv Bild 183 E1216 0042 001 Berlin Fernsehturm Bau 1 - Eine lohnende Debatte - DDR, Erich Honecker, Klassengesellschaft, Sozialismus, Walter Ulbricht - Theorie & Geschichte
Da wollen wir hin: Besprechung auf der Baustelle des Fernsehturms. (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-E1216-0042-001 / Kohls, Ulrich / CC BY-SA 3.0 / Bearb.: UZ)

Die Kernfrage, die maßgeblich ist und bleibt für die Strategie des Aufbaus des Sozialismus, ist eben die Entwicklung und Formierung des Sozialismus auf seiner eigenen Grundlage – ein langer und länger andauernder, bewusst zu gestaltender Prozess. Diese Erfahrung und Erkenntnis darf nicht in Vergessenheit geraten. Und wer meint, mit der Ersetzung des Wortes „sozialistisch“ durch „kommunistisch“ das Problem der Dauer aus der Welt zu schaffen und der Revolution einen Dienst zu erweisen, der ändert an der gesellschaftlichen Realität gar nichts. Bertolt Brechts „Mühen der Ebenen“ haben eben einen Sinn. Wir kommen nicht umhin, die wissenschaftlichen Diskussionen, die zum Problem der Übergangsperiode, der Etappen des Sozialismus, der Dialektik des Sozialismus und der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR geführt wurden, auszuwerten, aufzugreifen und für die Analyse und Bewertung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu nutzen. Selbst wenn als Ausgangspunkt der Debatte nicht selten ein höherer Entwicklungsstand der Gesellschaft angenommen wurde, als er tatsächlich schon erreicht war, heißt das nicht, dass die theoretischen Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden, falsch sein müssen.

Die von Ulbricht vertretene und geförderte Sozialismuskonzeption, das heißt die Entwicklung des Sozialismus auf eigener Grundlage, hat zur Konsequenz, dass der Abschluss der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht schlechthin mit dem Aufbau des Sozialismus als der ersten Phase des Kommunismus identifiziert werden kann. Die entscheidende, aber nicht alleinige Ursache für die in diesem Zusammenhang auch sichtbar werdende Mannigfaltigkeit der Entstehung und Entwicklung des Sozialismus, wie wir sie bereits kennen, ist der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Rahmen einzelner Staaten, ist die Ungleichzeitigkeit dieses Übergangs. Daraus ergeben sich die jeweiligen Besonderheiten. Die Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus ist die erste Entwicklungsetappe der sozialistischen Gesellschaft im jeweiligen Land. Trotz aller Vorzüge, welche die so existierende sozialistische Gesellschaft bereits gegenüber dem Kapitalismus besitzt, ist sie noch kein völlig gefestigter sozialer Organismus. Sie weist eine eigenständige sozialökonomische und politische Qualität auf, ist nicht einfach eine Mischung aus „Muttermalen des Kapitalismus“ und „Keimen des Kommunismus“. Es beginnt mit dem Abschluss der Übergangsperiode die Errichtung und Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Dieser Begriff, so Kosing, widerspiegelt keinen „bestimmten Zustand der sozialistischen Gesellschaft (…), und schon gar nicht einen mehr oder weniger idealen Zustand, sondern eine qualitativ bestimmte Entwicklungsperiode der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation, die vor allem durch das Niveau der zu lösenden Aufgaben gekennzeichnet ist“. Weitere Perioden dürfen realistischerweise angenommen werden. Und es versteht sich, dass auch die Formierung des Sozialismus letztlich von der Ökonomie ausgeht.

Langer Atem

Mit der Diskussion der Dialektik des Sozialismus, der Widersprüche, die hier existieren, ergab sich zugleich ein anderer Strang der Debatte. „Müssen wir nicht“, warf Jürgen Kuczynski die Frage auf, „auch die sozialistische Gesellschaft als einen Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft betrachten? Einerseits ist sie die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft, andererseits aber auch eine Übergangsgesellschaft. (…) Ist es nun so erstaunlich, dass eine solche Gesellschaft, belastet noch mit den ‚Muttermalen des Kapitalismus‘ und sich in einer Welt entwickelnd, die noch zwischen Sozialismus und Kapitalismus geteilt ist, antagonistische Widersprüche enthält?“

Mag sein, dass manch einer sagt, das liegt für uns alles in weiter Ferne. Ich habe auch schon gehört: „Lass mal die Fachliteratur beiseite“. Nur – abgesehen von den konkreten Entwicklungen in den noch existierenden sozialistischen Ländern auf historisch unterschiedlicher Stufe und in verdammt schwieriger Lage – sollten wir uns daran erinnern, dass für Marx die Kommunistische Partei ihrem Wesen nach eine „Partei im großen historischen Sinne“ war. Das Ansteuern des kommunistischen Ziels wird als eine grundsätzliche Frage behandelt, die mit keiner konkreten Frist verbunden ist. Gerade heute wissen wir: Es handelt sich um einen Kampf, der sich über viele Generationen hinzieht. Wie will man die Größe und Kompliziertheit dieses Kampfes verstehen, wenn man die „Fachliteratur“, damit auch die geschichtlichen Erfahrungen, beiseite lässt?

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"Eine lohnende Debatte", UZ vom 29. September 2023



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