Auch ich bin ein 68er, denn ich gehöre zufällig zu einem jener Jahrgänge, die 1968 Anfang zwanzig waren. Ich allerdings zählte damals zum eher passiven Teil der 68er. Ich habe in dieser Zeit mehr gelernt als gehandelt. Als wichtigste Erkenntnis habe ich damals begriffen, dass der Vietnamkrieg, den die USA führten, unrecht und von Übel war. Das war eine wichtige und radikale Erkenntnis. Sie wuchs in den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas mit den Bildern, die aus Vietnam über den Schwarz-Weiß-Fernseher hereinflimmerten. Sie setzte sich weiter durch mit jedem GI, der aus Vietnam gesund, tot oder verwundet zurückkehrte. Die 68er, ganz besonders die in den USA selbst, sind aus dem Widerstand gegen den Vietnamkrieg entstanden. Sie haben ihrerseits die Erkenntnis durchgesetzt, dass die USA in Vietnam nichts zu suchen hatten.
Vor 1968 hielt die Mehrheit der Bürger in der Bundesrepublik, unter anderem auch ich, die Aussage für wahr, dass ‚Amerika‘ in Vietnam einen legitimen Krieg gegen die Ausbreitung des Kommunismus führte. Nach 1968 glaubten das immer weniger Menschen, und als 1976 die US-Truppen aus Vietnam vertrieben worden waren, hatte die Geschichte die Rechtfertigungsideologie für diesen Krieg für jeden erkennbar beseitigt. Die Welle des Klassenkampfes, die 1968 hochschwappte, kam nicht aus dem nichts. Eine ihrer wichtigsten Quellen war die Bewegung gegen den Krieg, die Wiederaufrüstung und die Atomwaffen. Das Adenauer-Regime hatte sich schwer getan damit, die BRD zum schwerbewaffneten Frontstaat gegen den Kommunismus auszubauen. Der Antikommunismus diente auch als Rechtfertigung für den imperialistischen Krieg. Ihn an dieser Stelle durchbrochen zu haben, ist ein wichtiger Erfolg der 68er.
Leider kein dauerhafter. Heute, da die 68er-Bewegung anlässlich ihres runden Geburtstages in Feuilletons, in soziologisch und politisch argumentierenden Aufsätzen gefeiert und vielfach auch verdammt wird, wird diese wichtige Lehre der damaligen Aktivisten zu wenig beachtet. Denn schließlich ist sie leider wieder besonders relevant. Die Interventionskriege des Westens unter Führung der USA werden immer zahlreicher. Syrien wird mit allen Mitteln der direkten und indirekten Kriegführung bekämpft. Libyen ist bereits als Staat zerlegt worden. Im Jemen und in mehreren afrikanischen Staaten werden von den NATO-Staaten und ihren Verbündeten Kriege geführt. Der Einmischungskrieg gegen Afghanistan dauert mittlerweile fast 40 Jahre.
Eher nachlässig kümmern die kriegführenden Staaten des Westens sich um eine rudimentäre Rechtfertigung ihres Tuns. Sie konstruieren für sich eine Schutzfunktion, „Responsibility to Protect“ genannt, die dem ähnelt, was die Kolonialisten alter Prägung als Verbreitung des Christentums und später der Zivilisation unter den Barbaren genannt haben. „Auslandseinsätze“ heißen die Kriege nett neutral im bundesdeutschen Politslang. Sie werden nach orchestrierter Abstimmung im Bundestag von einer „Parlamentstruppe“ durchgeführt.
Die Lage ist heute schlimmer als in den 60er Jahren. Denn die US-Streitkräfte sahen sich in Vietnam einem organisierten Gegner gegenüber, von den US-Amerikanern abfällig „Vietcong“ genannt. Es war die nationale Befreiungsbewegung, die unter Führung der kommunistischen Partei des Landes stand. Die vom Imperialismus Angegriffenen sind heute meist schlechter organisiert, ihre Strategie ist fehlerhaft und es fehlt ihnen an Bündnispartnern. Die Solidarität der Bürger in den Aggressorländern ist darum noch wichtiger als vor fünfzig Jahren. Die eigene herrschende Klasse an der Kriegführung in aller Welt zu hindern, ist das einfache, aber schwierige Ziel. Die Parolen von damals sind deshalb noch richtig. Sie lauten „Amis raus aus Syrien, Irak, Afghanistan, Korea …“. Und dazu noch lauter und deutlicher: „Deutsche raus aus Syrien, Jordanien, Mali, Afghanistan …“.