Das Thema Arbeitszeitverkürzung begleitet mich jetzt schon vierzig Jahre. Ich komme ursprünglich aus der IG Druck und Papier und das war ja die Gewerkschaft, die Anfang der 1980er mit der IG Metall zusammen für die 35-Stunden-Woche gekämpft hat. Neue Aktualität gewonnen hat das Thema 30-Stunden-Woche oder Kurze Vollzeit durch die Forderungen der IG Metall. Diese Forderung beendet eine mehr als 20-Jährige relative Friedhofsruhe in der Frage Arbeitszeitverkürzung.
So schön die Tatsache ist, dass jetzt die IG Metall-Forderung Arbeitszeitverkürzung wieder auf die Tagesordnung setzt, hat die Forderung natürlich in sich schon gewisse Haken. Zum einen ist die Option eine individuelle, also jeder einzelne Beschäftigte soll die Möglichkeit bekommen, zwischen 28 und 35 Stunden zu verkürzen, maximal zwei Jahre, mit einem garantierten Rückkehrrecht. Das ist ein Riesenvorteil gegenüber dem jetzt auch möglichen Teilzeitbefristungsgesetz, wo das Rückkehrrecht fehlt. Aber es ist eben eine individuelle Option. Der Lohnausgleich ist nur gefordert für bestimmte Gruppen, nämlich Eltern- und Kinderbetreuungspflichtige, Pflegende und Schichtarbeitende. Der Personalausgleich kommt im Kleingedruckten vor. Es ist nicht die Forderung nach einer neuen Normalarbeitszeit zwischen 28 und 35 Stunden für alle.
Die IG Metall nimmt die Bedürfnislage der Menschen von heute auf. Das ist ein verstärktes Bedürfnis, Beruf und Familie zu vereinbaren und darüber hinaus Zeitwohlstand. Was aber bei der IG Metall-Forderung völlig hinten runter fällt, ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigung. Das bedeutet zum einen, dass eine Solidarisierung von Beschäftigten und Erwerbslosen gar nicht mehr ins Auge gefasst wird. Und zum anderen habe ich den Eindruck, dass in den Begründungen teilweise der Regierungsideologie aufgesessen wird. Die offiziellen Arbeitslosenzahlen belaufen sich auf 2,5 Millionen. Inzwischen nimmt die Agentur für Arbeit auch selber die Unterbeschäftigung und all diejenigen, die in Weiterbildungsmaßnahmen, älter als 58 sind, die während der Arbeitslosigkeit erkranken, hinzu. Rechnet man sie hinzu, dann sind es eine Million Arbeitslose mehr. Das bedeutet eine Verwandlung der Vollzeitarbeitslosigkeit in eine flächendeckende Teilzeitarbeitslosigkeit.
Frankreich zum Beispiel wird immer als Beispiel für angeführt, das eine hohe Arbeitslosigkeit hat. Das wird mit der 35-Stunden-Woche begründet. Wenn man aber die verschiedenen Länder Europas vergleicht, dann sieht man, dass in den Ländern wie Frankreich, wo überwiegend in Vollzeit gearbeitet wird, die Arbeitslosenquote fast doppelt so hoch ist wie in Ländern wie Deutschland, England, Holland, wo viel in Teilzeit gearbeitet wird. Wir haben in den letzten Jahren eine enorme Zunahme unfreiwilliger Teilzeit und darunter eine enorme Zunahme von sogenannten Minijobs, die nicht existenzsichernd sind.
Die Arbeitszeiten sind zudem ein Mechanismus zur Herstellung und Verewigung von Geschlechterungleichheit. Wir haben in Deutschland den höchsten gender-time-gap in Europa. Der gender-time-gap ist der Unterschied in der Arbeitszeitlänge von Männern und Frauen und der beträgt 9 Stunden pro Woche. Viele Frauen sind in Teilzeit – das ist der Karrierekiller und führt in die Altersarmut. Deswegen redet man von der Teilzeitfalle.
Helmut Spitzlein, Professor für Arbeitswissenschaften und Volkswirtschaftslehrer an der Uni Bremen, hat den Begriff der kurzen Vollzeit geprägt. Mit einem solchen Begriff wird das Stigma, was der Teilzeit anhaftet und für alle Menschen, die Karriere machen wollen, so unattraktiv macht, beseitigt. Spitzlein hat eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufgemacht, was eine kurze Vollzeit für alle bedeuten würde.
Er hat anhand dieser volkswirtschaftlichen Berechnungen zeigen können, dass wenn wir die Arbeitszeit als Normalarbeitszeit für alle auf ungefähr etwas unter 30 Stunden absenken würden, dann wäre Vollbeschäftigung wieder möglich. Deswegen nannte er es „Vollbeschäftigung neuen Typs“. Diese beiden Begriffe, kurze Vollzeit und Vollbeschäftigung neuen Typs, müssen wir uns für die Diskussion merken.
Jetzt kommen natürlich Einwände von den verschiedensten Seiten: Die 30-Stunden-Woche ist ja völlig utopisch. Wer soll das bezahlen? Die Forderung gibt es schon seit 500 Jahren. Der Erste war Thomas Morus in seinem berühmten Buch „Utopia“. Dort fordert Morus den Sechs-Stunden-Tag. Er meinte, wenn die Menschen sich einschränken würden und alles bedarfsorientiert produzieren würden, gemeinschaftlich organisiert, dann wäre das möglich. Vor 500 Jahren war das eine Utopie. Aber inzwischen haben wir einen solch enormen Fortschritt der Produktivkraftentwicklung hinter uns, dass man heute sagen kann, das ist keine abstrakte Utopie mehr, sondern heute ist es eine konkrete Utopie, deren objektive Möglichkeit erstmals auch existiert. Von 1960 bis 2000 ist die Produktivität um 100 Prozent gewachsen. Das heißt, wenn wir in den 60er Jahren 48 Stunden gearbeitet haben, hätten wir Anfang der 2000er Jahre die 24-Stunden-Woche haben können. Unter den gegebenen Machtverhältnissen und Kräfteverhältnissen war und ist das nicht umsetzbar.
Ich mache immer eine kurze Umfrage bei vielen Gewerkschaftsseminaren: welche Arbeitszeit hätten Sie gerne und welche Arbeitszeit arbeiten Sie jetzt bereits? Und die Zahl derer, die heute bereits 30 Stunden pro Woche arbeiten, wächst. Der große Haken dabei ist, dass sie völlig individualisiert ist und in aller Regel nicht mit einem Lohnausgleich versehen ist. Das heißt, die Beschäftigten bezahlen ihre Arbeitszeitverkürzung selber. Die Stellenteile, die wegfallen, sind nur zu 15 Prozent neu besetzt worden. Die Form der individuellen Arbeitszeitverkürzung hat den Verzicht auf Lohn zur Folge und in der Regel auch eine Intensivierung der Arbeit. Deswegen ist Teilzeit bei vielen, die davon betroffen sind, auch nicht sonderlich beliebt.
Mit der Absenkung der Lohnstückkosten in den letzten Jahren dank Hartz IV und der Agenda 2010, ist Deutschland zum Niedriglohnland geworden. Heute haben wir mit 25 Prozent aller Erwerbstätigen den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. Die Konkurrenzfähigkeit gegenüber allen anderen europäischen Ländern wurde so erhöht, dass diese Länder mit diesen Superexporten kaputt gemacht worden sind. Der volle Lohnausgleich hätte die Wirkung, dass die Lohnstückkosten ein wenig erhöht würden und der Konkurrenzdruck auf die europäischen Länder ein wenig gemindert würde.
Mit einem vollen Lohnausgleich würden die Gewinne der Unternehmen angegriffen werden. Das wäre gut, weil wir eine gewaltige Spekulationsblase wieder im Aufbau haben. Der Gewinnanteil am Volkseinkommen, am Bruttosozialprodukt ist in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gewachsen. Der hat mal 25 Prozent betragen, heute ist er bei 36 Prozent. Proportional dazu ist der Anteil der Löhne am Volkseinkommen gesunken. Diese Extragewinne werden nicht in der Realwirtschaft angelegt, sondern sie werden überwiegend in Spekulationen angelegt. Das führt zu einem Aufblähen dieser Spekulationsblase, die uns irgendwann und möglicherweise relativ bald dann um die Ohren fliegen wird. Ein voller Lohnausgleich bei einer spürbaren Arbeitszeitverkürzung würde diese Gewinne ein wenig zurückschrauben.
Es gibt weitere Gründe für Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich – zum Beispiel der Abbau der Arbeitslosigkeit. Auch wenn es statistisch vernebelt wird, haben wir in Deutschland eine beträchtliche Arbeitslosigkeit. Es gibt aber in ganz Europa eine enorme Arbeitslosigkeit, vor allem in Südeuropa und insbesondere bei den Jugendlichen. Diese Jugendarbeitslosigkeit, die in manchen Ländern bis zu 60 Prozent beträgt, wird eine ganze Generation von jungen Menschen in die totale Perspektivlosigkeit entlassen. Diese sich verfestigende Arbeitslosigkeit insbesondere bei jungen Leuten ist ein Nährboden sowohl für Rechtsextremismus als auch für Islamismus.
Ein weiterer Grund wäre der Schutz des Klimas. Wir brauchen eine Reduktion sämtlicher klimaschädlichen Produktionen. Für die IG Metall ist die Umstellung vom Verbrennungsmotor auf den Elektromotor eine riesige Herausforderung. Es benötigt erheblich weniger Arbeitskraft, um Elektromotoren herzustellen. Wenn wir all diese Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit schicken wollen, dann müssen wir die verbleibende Arbeit umverteilen.
Gesundheit ist ein weiterer Grund. Die real existierenden Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten sind so lang und parallel ist die Intensität der Arbeit in den letzten 20, 25 Jahren so enorm gestiegen, dass immer mehr Menschen das nicht mehr aushalten. Der Anstieg von psychischen Erkrankungen ist die zweithäufigste Krankschreibungsursache. Abgesehen von dem ganzen Leid, das es für die Einzelnen beinhaltet, hat das natürlich auch unglaubliche Kosten für die Gesamtwirtschaft und für uns alle als Beitragszahler.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein weiterer Grund. Es gibt immer mehr junge Eltern, aber auch immer mehr Menschen, die Angehörige zu pflegen haben. Inzwischen sind es auch mehr Männer, die sich um beides kümmern. Es braucht eben einfach Zeit, das neben der Erwerbstätigkeit zu machen.
Inzwischen ist es auch so, besser von Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf zu reden, weil es gibt auch Menschen ohne Familie, die trotzdem das Bedürfnis haben, kürzer zu arbeiten. Ich diskutiere oft mit Personalverantwortlichen von Bremer Betrieben. Die erzählen in letzter Zeit immer häufiger, dass sie junge Leute haben, die gleich beim ersten Bewerbungsgespräch schon fragen, ob es die Möglichkeit gibt, die Arbeitszeit zu verkürzen. Da findet ein Wertewandel statt.
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist, dass nur durch eine relevante Umverteilung von Arbeit die Verhandlungsmacht und Kampfkraft der Gewerkschaften wieder hergestellt könnte. Insofern ist es ein fundamentales Eigeninteresse der Gewerkschaften, durch Arbeitsumverteilung Arbeitslosigkeit abzubauen und eine existenzsichernde kurze Vollzeit zu schaffen.
Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und auch als politische Menschen müssen wir für eine solche kurze Vollzeit sein, weil es nur mit einer relativen kurzen Erwerbsarbeitszeit möglich ist, sich überhaupt gewerkschaftlich und politisch zu betätigen.
Eine realistische Prognose für die Digitalisierung und Automatisierung scheint mir die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg zu sein. Die haben untersucht, wie hoch bei einzelnen Tätigkeiten das Ersetzbarkeitsrisiko ist und kommen zu dem Schluss, dass es bei vielen Tätigkeiten, die relativ gleichförmig sind, egal ob das in der Produktion ist oder im Dienstleistungsbereich, das Ersetzbarkeitsrisiko zwischen 12 und 15 Prozent liegt.
Zudem müssen wir uns darauf einstellen, dass wir irgendwann im nächsten Jahr auch die Flüchtlinge, die jetzt ihre Integrationskurse hinter sich haben, in den Arbeitsmarkt integrieren müssen. Da kommt auch noch mal eine knappe Million auf uns zu.
Das Arbeitgeberlager wird den erbittertsten Widerstand gegen jede Forderung und auch sei es auch nur die relativ eingeschränkte der IG Metall, leisten und den totalen Gegenangriff starten. Der BDA hat schon gesagt, der 8-Stunden-Tag sei eigentlich überholt. Es sei gar nicht mehr anders machbar, vernünftig zu arbeiten, wenn man nicht die Regulierung von Arbeitszeiten schleift. Und gleichzeitig versuchen sie, die Beschäftigten zu instrumentalisieren. Wir wissen aus Untersuchungen, dass 85 bis 90 Prozent aller Flexibilisierungsmaßnahmen und Regulierungen im Arbeitgeberinteresse erfolgen. Wir haben eine Flexibilisierungsfalle, in die die IG Metall nicht hineintappen sollte.
Das Letzte, was ich noch sagen will, ist, das Entscheidende bei allen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, ist die Frage der Personalausgleichs. Der Lohnausgleich ist natürlich auch wichtig, aber die Frage des Personalausgleichs ist strategisch entscheidend. Ich halte die Tarifbewegung von ver.di, nämlich den Kampf um Personalmindeststandards, für das, was im Moment perspektivisch wichtig ist. Nur wenn man Mindeststandards von Personal hat, kann man gewährleisten, dass die vereinbarten Arbeitszeiten ohne Arbeitsverdichtung überhaupt eingehalten werden.