Erster Mai in Hamburg. Für den 19-jährigen Benjamin R., der zusammen mit seiner Mutter an der Demonstration im Stadtteil Lokstedt teilnehmen wollte, endete der Tag auf der Intensivstation des Klinikums St. Georg. In der Ausgabe vom 3. Mai beschrieb das Hamburger Abendblatt, wie Benjamin R. ungerechtfertigter Polizeigewalt zum Opfer fiel: „Auf dem verstörenden Video ist gut zu erkennen, wie der kräftige Polizist in Schutzmontur auf der Schäferkampsallee am U-Bahnhof Schlump mit hohem Tempo auf den schwarz gekleideten Demonstranten zustürmt, wie er ihn wuchtig umstößt und fast in ihn hineinstürzt. Der Mann kippt sofort um, knallt mit dem Hinterkopf auf den Asphalt, während sich der Polizist kurz umdreht. Und weggeht.“ Bedauerlicher Einzelfall einer Körperverletzung durch einen situativ überforderten Beamten oder ein Fall von vielen?
Die Anfang Mai veröffentlichte kriminologische Studie „Gewalt im Amt“, durchgeführt von einer Forschungsgruppe der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität rund um den Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein gibt eine eindeutige Antwort. Auf fast 500 Seiten werden die Ergebnisse der Befragung von 3.373 Betroffenen analysiert. Es geht um den Einsatz von Schusswaffen, Reizgas, Schmerzgriffen, Schlägen, Tritten, Würgen, vorgenommen zumeist bei politischen Großveranstaltungen wie Demonstrationen oder anlässlich von Polizeiaktionen vor und nach Fußballspielen. Die Studie beschäftigt sich mit den Ursachen wie auch den justiziellen Folgen dieser Einsätze. Die Hintergründe polizeilicher Gewalthandlungen führt die Studie auf mangelhafte Ausbildung und Einsatzplanung sowie auf die unzureichende Kommunikation zwischen Einsatzleitung und eingesetzten Beamten zurück.
Obwohl das Recht die Anwendung „unmittelbaren Zwangs“ als Ausnahmebefugnis im Bereich des staatlichen Gewaltmonopols vorsehe, gehörten „Gewaltanwendungen zum polizeilichen Berufsalltag“, zur „Polizeikultur“, was insgesamt zur Senkung der Hemmschwelle im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt führe. Hinzu komme die statistisch signifikante Unlust, im Rahmen von Zeugenaussagen die eigenen Kollegen anzuschwärzen. Augenfällig – so die Ergebnisse der Studie – sei das Wegsehen der Justiz, wenn überhaupt Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 Strafgesetzbuch) eingeleitet würden. So wurden nach der erhobenen Statistik zu über 2.000 Fällen dokumentierter Polizeigewalt 90 Prozent der Ermittlungsverfahren schon im frühen Verfahrensstadium eingestellt, lediglich 2 Prozent gelangten zur Anklage und mündeten damit in eine Hauptverhandlung. Dies stehe in krassem Gegensatz zu der mit 22 Prozent bezifferten Anklagequote bei den übrigen Delikten. Von den bundesweit im Jahr 2021 wegen Körperverletzung angeklagten 80 Beamten wurden lediglich 27 verurteilt, die übrigen Fälle vom Gericht freigesprochen oder eingestellt.
Die Studie beklagt insoweit ein auffälliges „institutionelles Näheverhältnis“ von Polizei und Justiz. Schon die Anzeigeerstattung selbst laufe oft ins Leere, da mangels Kennzeichnung des Einzelbeamten eine Identifizierung vereitelt werde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Deutschland am 9. November 2017 wegen Verletzung des Artikels 3 der Menschenrechtskonvention (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) zur Individualkennzeichnung der Polizeibeamten. In vier Bundesländern wurde dies bis heute nicht umgesetzt. Genauso wenig wie die Forderung nach unabhängigen Ermittlungsstellen für polizeiliche Gewaltakte in Bund und Ländern durchgesetzt worden ist. Dies scheitert vor allem am Widerstand der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Sie befürchtet eine politisch motivierte „Paralleljustiz“. Die Studie „Gewalt im Amt“ zeigt hingegen, dass es schon ausreichen würde, wenn Polizei, Justiz und Politik sich schlicht an die Menschenrechtskonvention hielten.