Landesregierung in NRW treibt Privatisierung von Bildung und Gesundheit voran

Eine Kammer für die Pflege?

Von Werner Sarbok

Pflegekammern in der Bundesrepublik Deutschland

Baden-Württemberg: Befragung geplant

Brandenburg: Befragung geplant

Bayern: Bayerische Alternative „Pflegevereinigung“ seit 1. Juni 2017

NRW: Pflegekammer im Koalitionsvertrag vereinbart

Niedersachsen: Gesetz zur Einführung verabschiedet

Rheinland-Pfalz: Pflegekammer seit 1. Januar 2017

Schleswig-Holstein: bestehende Pflegekammer unter wachsender Kritik

„Nordrhein-Westfalen wird eine Interessenvertretung der Pflegenden errichten, wenn die Pflegenden dies wollen“, heißt es im Koalitionsvertrag von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen. Schützenhilfe gibt es vom „Pflegerat NRW“, einer Landesarbeitsgemeinschaft der Pflegeberufsverbände und Pflegeorganisationen. Diese von den Unternehmern betriebene Organisation setzt sich bereits seit Längerem für die Gründung einer Pflegekammer ein. „Es geht in erster Linie um den Schutz der Pflegebedürftigen vor unzureichend qualifizierten Pflegepersonen. Dieses ist die primäre Aufgabe einer Kammer“, sagte der Vorsitzende des Pflegerates, Ludger Risse, bereits 2015 im Gespräch mit den Fraktionen im damaligen Landesparlament. Die Pläne sorgen nun innerhalb von ver.di für Diskussionen.

Im Februar 2017, also noch zu Zeiten der nun abgewählten rot-grünen Landesregierung, hatte sich Wolfgang Cremer, ver.di-Fachbereichsleiter Gesundheit in NRW, gegen die erfolgreiche Lobbyarbeit der Anhänger der Pflegekammern positioniert: „Wenn die notwendige lebenslange Fortbildung der Pflegekräfte von den Beschäftigten selbst bezahlt werden soll, ist etwas faul an dem Konzept.“

Mit einer Pflegekammer ist eine berufsständische Vertretung der Pflegefachkräfte gemeint, die durch ein Gesetz eines Landesparlaments eingerichtet und deren Aufgaben durch den Gesetzgeber festgelegt werden. Es bestehen in Deutschland verschiedene ständische Kammern, in denen allerdings nahezu ausschließlich Selbstständige organisiert sind, z. B. Handwerkskammern für Berufe der Handwerksordnung oder Ärzte- und Apothekerkammern für den Bereich des Gesundheitsdienstes. Erstmals würde eine derartige Kammer von überwiegend lohnabhängig Beschäftigten getragen werden, und zwar nicht auf freiwilliger Basis, sondern auf Grundlage einer Zwangsmitgliedschaft. Nach dem vorliegenden Diskussionsstand in NRW müssten alle examinierten Pflegefachkräfte Mitglied werden und einen Pflichtbeitrag bezahlen, 10 Euro monatlich sind im Gespräch. Da übrigens nur Fachpfleger in den Kammern berücksichtigt werden sollen, fällt die große Gruppe der un- bzw. angelernten Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Modell heraus.

Mit der Einrichtung der Pflegekammern würde ein weiterer Aspekt des Bildungs- und Gesundheitswesens entstaatlicht und privatisiert. Aufgaben der Politik wie die Fortbildung der Pflegekräfte würde dann nicht mehr von den Unternehmen der Pflege, sondern von den Pflegekräften selbst finanziert werden. Kratzt man etwas an der Oberfläche des Projekts, wird die ideologisch-politische Stoßrichtung schnell deutlich: Die Einbindung der Pflegenden in ein höchst attraktives und profitables Pflegesystem, in dem ihre Interessen in einem Co-Management gut aufgehoben scheinen.

Mit Argumenten wie Aufwertung des Pflegeberufes, Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder der Herstellung von gleicher Augenhöhe mit den Arbeitgebern soll die Einrichtung der Kammer den Beschäftigten schmackhaft gemacht werden. Dazu soll, so der Koalitionsvertrag in NRW, „eine repräsentative Befragung bei den professionell Pflegenden“ durchgeführt werden, ob eine Landespflegekammer oder als Alternative das Modell der „Vereinigung der bayerischen Pflege“ konstituiert werden soll.

Aufgabenbereich der Pflegekammer wäre die Sicherstellung der Pflege der Bevölkerung auf aktuellem pflegewissenschaftlichem Niveau, Stellungnahmen zu Gesetzen, Beteiligung bei Gesetzesvorhaben und die Mitbestimmung in zentralen gesundheitspolitischen Gremien. Die zentralen Probleme der Pflege wie Personalmangel, die steigende Arbeitsbelastung oder fehlende Zeit für Auszubildende sowie die Durchsetzung einer angemessenen Entlohnung lösen die Pflegekammern aber gerade nicht. Ein Weisungsrecht gegenüber staatlichen Stellen oder Unternehmen hätten die Kammern ebenfalls nicht und – im Vergleich zu einer Gewerkschaft – nicht die Möglichkeit, Interessen der Beschäftigten beispielsweise mit Arbeitskämpfen und Streikaktionen durchzusetzen.

Wenn die Pflegekammer analog der ärztlichen Ständeorganisation auch die Fortbildung organisiert, kann es zu folgender paradoxer Situation kommen: Die Pflegekammer erlässt Mindestanforderungen zur Ausübung des Pflegeberufes, z. B. sind eine gewisse Anzahl an Fortbildungspunkten pro Jahr zu ereichen. Die Pflegekammer hat aber keine Möglichkeit, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben, dass diese die entsprechenden Fortbildungen organisieren oder auch nur für sie freistellen müssen. Absehbar ist dann, dass das Pflegepersonal ihren Fortbildungen nachlaufen, sie selbst finanzieren und/oder in der Freizeit durchführen muss.

Auch aus diesen Gründen lehnt ver.di NRW die Einführung einer Pflegekammer ab: „Es ist staatliche Aufgabe, eine gesicherte pflegerische Versorgung zu gewährleisten“, erklärt die Gewerkschaft und begründet die Ablehnung des Modells: „Steuern und Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bilden die finanzielle Grundlage für den Anspruch der Bevölkerung auf gute pflegerische Versorgung im Krankheitsfall, im Alter und bei Behinderung.

Einer Pflegekammer diese hoheitlichen Aufgaben zu übertragen und die Pflegekräfte dafür bezahlen zu lassen, lehnen wir ab. Wir möchten unsere gewählten Politikerinnen und Politiker auch zukünftig für die Versorgung der Menschen in diesem Land in die Verantwortung nehmen können und diese Aufgabe nicht auf eine Pflegekammer übertragen sehen. Wählerinnen und Wähler haben keinen Einfluss auf Pflegekammern.“

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"Eine Kammer für die Pflege?", UZ vom 4. August 2017



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