Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, traf sich bei seinem Besuch der BRD auch mit SPD-Politikern (hier am 9. September 1987 in Saarbrücken mit dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Oskar Lafontaine, stellvertretender Vorsitzender der SPD (l.), und dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Landtag von Niedersachsen und späteren Bundeskanzler, Gerhard Schröder). Kurz zuvor war das gemeinsame SED-SPD-Papier veröffentlicht worden.
Vor 30 Jahren, am 27. August 1987, wurde der Öffentlichkeit – gleichzeitig in der Bundesrepublik und in der DDR – ein gemeinsames Dokument der SPD-Grundwertekommission und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED vorgestellt. Der Titel: „Der Streit der Ideologien und der gemeinsamen Sicherheit“.
Einer der zentralen Punkte dieses Papiers war die Aufforderung an die Militärmächte der kapitalistischen und der sozialistischen Staaten in Abrüstungsverhandlungen mit einzubeziehen, dass es „auf Dauer auch nicht praktikabel (ist), wenn sie die Annahme der prinzipiellen Unfriedlichkeit der anderen Seite aufgrund von deren Ideologie oder Interessenstruktur einschlössen. Beide Seiten müssen daher für eine erfolgreiche Friedenspolitik beim jeweils anderen ein authentisches Interesse an der Erhaltung des Friedens in der atomar gerüsteten Welt voraussetzen – der Erfahrung friedensgefährdender Konflikte zum Trotz.“
Weitere Kernaussagen waren, „dass beide Systeme reformfähig“ seien, also monopolistischer Kapitalismus und Sozialismus, und „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen“. – Wer redete da noch von Kapitalismus, Imperialismus und den Ursachen von Krieg, Armut, Ökokatastrophen, Hunger? Es wären noch einige solcher Schlussfolgerungen aus dem Papier zu ziehen. Die Anerkennung dieser Position durch die Unterschrift der Vertreter der SED widersprach nicht nur den eigenen bisherigen wissenschaftlichen und historischen Erkenntnissen.
Die Vorgeschichte
Das Papier war ein Ergebnis einer nicht öffentlichen Gesprächsreihe seit 1984. Damals trafen sich jeweils acht Mitglieder der SPD-Grundwertekommission und Gesellschaftswissenschaftler der SED, um nicht nur gemeinsam über „kleine Schritte in der Deutschlandpolitik“ zu reden, sondern über grundsätzliche ideologische Streitfragen.
Erhard Eppler, Vorsitzender der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD, berichtete: „Es war das erste Mal in der Geschichte beider Parteien, dass man versuchte, ein Grundsatzgespräch zu führen … Ende Februar 1986 trafen wir uns in Freudenstadt zum vierten Mal. Wir wollten ausloten, was der Wille zu gemeinsamer Sicherheit für den Streit der beiden Gesellschaftsordnungen, der Systeme und Ideologien bedeuten könnte.… So schlug ich am Ende eines aufregenden, aber keineswegs aufgeregten Gesprächs vor, wir könnten ja, ohne jeden Zeitdruck, den Versuch machen, etwas gemeinsam zu Papier zu bringen.“ Daraus wurde ein gemeinsames Dokument.
Die Möglichkeit der Aufnahme von Kontakten zwischen SED und SPD ging auf einen Brief Willy Brandts an Honecker zurück. Das SED-Politbüro hatte bereits zuvor nach Anfragen beschlossen: „Dem Ersuchen des Vorsitzenden der SPD, Willy Brandt, Parteibeziehungen zwischen SPD und der SED herzustellen, wird entsprochen.“ Schon im April 1983 nahm eine SPD-Delegation an der Karl-Marx-Konferenz in Berlin teil. Die SPD schlug eine weitere Intensivierung der Parteikontakte vor.
Ein Dokument der Illusionen
Das Papier wurde in einer Zeit zahlreicher Ost-West-Ereignisse veröffentlicht. Am 1. Januar strahlte Radio Moskau die Neujahrsansprache des US-Präsidenten Ronald Reagan an das sowjetische Volk aus. Am 27. Januar stellte Gorbatschow auf dem Plenum des Zentralkomitees der
KPdSU die beabsichtigte „Perestroika“ in der UdSSR als konkrete Aufgabe vor. Am 12. Juni reiste US-Präsident Ronald Reagan zur 750-Jahr-Feier Berlins nach Westberlin. In seiner öffentlichen Rede vor dem Brandenburger Tor forderte er den sowjetischen Parteichef Gorbatschow auf, die Mauer niederzureißen. Im September besuchte Erich Honecker als erster Staatschef der DDR die Bundesrepublik.
In der SED und der DDR-Öffentlichkeit gab es Erstaunen und Irritationen, zustimmende und ablehnende Reaktionen. Rolf Reißig, damals Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Teilnehmer an den Gesprächen, schilderte später: „Es kam für alle – gerade auch die Autoren – überraschend, dass die SED-Führung dem Ideologiepapier zustimmte, obwohl es keinen Auftrag gegeben und die zuständige ZK-Abteilung Ablehnung signalisiert hatte. Die Entwürfe – auf SED-Seite nie in größerer Runde diskutiert – hatten Erich Honecker und das Politbüro aus guten Gründen nicht erreicht. Das Dokument war bereits durch das SPD-Präsidium gebilligt, als es Otto Reinhold dem im Urlaub weilenden Honecker schickte. Einen Tag später kam es mit dem Vermerk zurück: ‚Einverstanden. E. H., PB zur Entscheidung vorlegen. Dokument wäre von großer historischer Bedeutung – für die Diskussion und Aktion der Arbeiterbewegung’.
Ein ‚wichtiger Akt der DDR-Friedenspolitik’, ein Schritt, die SPD in eine ‚Koalition der Vernunft’ einzubeziehen, war kurz darauf aus dem Politbüro zu hören. Wie man DDR-intern mit dem Papier umgehen wollte blieb unklar. Eine ‚Partei-Information’ sollte den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern ‚helfen’, das Ganze als Erfolg der SED-Friedensstrategie zu verstehen.“ Es war unter anderem Reißig, der bei der Ausarbeitung des Dokuments viele sozialdemokratische Vorschläge akzeptiert hatte. 1996 war er an der Gründung des „Forum Ostdeutschland der Sozialdemokratie“ im beteiligt. Er ist Mitglied im Willy-Brandt-Kreis.
„Türöffner“ oder Dokument der Vernunft?
Auch in der SPD gab es Zustimmung und Ablehnung, Fragen und Diskussionen. Erhard Eppler beruhigte die Kritik der Sozialdemokraten: „Dem Papier liegt keine ‚Konvergenz-Theorie’ zugrunde. Aber es macht deutlich, dass es gemeinsame Interessen gibt. Dazu gehört auch die hier formulierte Erkenntnis, dass Friedenspolitik auf die Dauer nur möglich ist, wenn dem Gegner Friedensfähigkeit unterstellt wird. Daher ist und bleibt es Aufgabe beider Seiten, die Friedensfähigkeit der jeweils anderen Gesellschaftsordnung in das Bewusstsein der jeweils eigenen Öffentlichkeit zu bringen. Am Beginn eines solchen ‚neuen Denkens’ steht zuallererst eine vertrauensbildende Sprache sowie die Abrüstung der Feindbilder in den Köpfen der Menschen. (…) Die Öffnung zwischen SPD und SED und die Öffnung in der DDR gehören zusammen.“ Gegen den Vorwurf, „Mit Kommunisten redet man nicht!“ antwortete er: Wir wollten eine Tür öffnen und haben es auch geschafft.
Im „Neuen Deutschland“ vom 31. August 1987 hieß es: „Vor uns liegt ein Dokument der Vernunft und des Realismus.“
25 Jahre danach erklärte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-„Diktatur“, besser gesagt „zur Delegitimierung der DDR“, auf einer Veranstaltung zu diesem Jahrestag: „Dass das Papier gemeinsam von westdeutschen Sozialdemokraten sowie ostdeutsche Sozialisten veröffentlicht wurde, sei sensationell bzw. brisant gewesen: Erstmals hatte eine durch und durch demokratische Partei zusammen mit einer durch und durch diktatorischen Partei ein gemeinsames Manifest formuliert … die Wirkung des Papiers sei vor allem von der SED-Regierung unterschätzt worden. Dass Kurt Hager, Chefideologe im SED-Politbüro, nach dem Staatsbesuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik 1987* in einem Interview große Teile des SED-SPD-Papier wieder zurückgenommen habe, sei ein Indiz dafür.“
* Erich Honecker besuchte die Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. September 1987