Harriet Tubman – der Weg zur Freiheit“ der Regisseurin Kasi Lemmons sei der „Film der Stunde“, urteilten Kritiker beim deutschen Filmstart 2019. Die legendäre Fluchthelferin passt in die Debatte und die aktuelle Protestwelle nach dem Polizeimord an George Floyd. Lange vorher allerdings haben Black-Lives-Matter und die #metoo-Frauenbewegung die entlaufene Sklavin von der Nordostküste der USA auf den Schild gehoben. Nicht nur deswegen lohnt sich ein Blick auf die bei uns weithin unbekannte Freiheitskämpferin – 200 Jahre nach ihrer Geburt, mehr als 400 Jahre nach Beginn des Sklavenhandels.
Araminta Ross alias Harriet Tubman alias „Moses“ alias „General Tubman“ hätte aktuell eigentlich eine 20-Dollar-Note schmücken sollen, ausgetauscht gegen das Konterfei des Sklavenhalters und Indianerhassers Andrew Jackson. Dessen „Entthronung“ hat Donald Trump vorerst verhindert. Sei’s drum. An Ehrungen mangelt es Harriet Tubman wahrlich nicht. In den USA sind ihr unter anderem Kinderbücher, Straßen, zwei Nationalparks und Statuen gewidmet, seit Januar sogar ein Theaterstück von Lorene Cary; Filme dagegen kaum. Ob das nur mit dem ungeschriebenen Gesetz Hollywoods zu tun hat, dass mit schwarzen Protagonistinnen kein Profit zu machen sei?
Jedenfalls ist die ungebildete Nachfahrin einer Deportierten aus Ghana zur Heldin geworden. Aus dem Sklavendasein in Maryland war sie allein in den Norden ausgerissen. Das war gefährlich genug. Tollkühn jedoch war es, mehr als ein Dutzend Mal zurückzukehren, um ihre Familie und andere Fluchtwillige in die Freiheit zu schleusen, insgesamt über 300 Menschen.
Was trieb die nur 1 Meter 50 kleine Frau, sich immer wieder tödlicher Gefahr auszusetzen? Schon mit fünf Jahren muss sie in einem Weißen-Haushalt schuften oder wird „vermietet“, auch als Babysitterin! Nur knapp überlebt das Kind den Wutausbruch einer jähzornigen Herrin, ihr Rücken für immer ein Gitter aus Narben von Peitschenhieben. Später erwirbt das geschickte, kräftige Mädchen bei Waldarbeiten mit dem Vater nicht nur Körperkraft, sondern auch intimste Kenntnis der Natur. Sie lernt die Position des Polarsterns und damit die Richtung nach Norden, in die Freiheit. Das kommt ihr bei ihrer Flucht zugute.
Der Entschluss dazu reift früh. Aber sie will nicht ohne ihre Familie sein. Der Verkauf zweier Schwestern in den heißen, sumpfigen Süden war ein Alptraum für sie gewesen. Als ihr kleiner Bruder geholt werden soll, verbarrikadiert sich die Mutter mit ihm und droht dem Besitzer Schläge an. Der gibt nach. Als dann Harriet selbst zum Verkauf steht, handelt sie.
Aus dem Vorbild der widerständigen Mutter zieht Harriet ihre eigene Berufung zur Freiheitskämpferin. Das Lied „Go down, Moses“ mit seinem „Let my people go“ – damals verboten wie auch andere Gospels – dient ihr als Erkennungsmelodie für die Fluchtbereiten im Versteck. So wird sie selbst zu „Moses“; in den Augen der gläubig-abergläubischen Sklaven eine geradezu mystische Figur. Harriets Orientierungssinn und Geistesgegenwart scheinen nicht von dieser Welt zu sein und alles hat sie im Gedächtnis. Lesen und schreiben zu lernen war Sklaven untersagt. Zur Not malt jemand der lebenslangen Analphabetin ein paar Buchstaben aufs Papier. Das dient als „Ausweis“ gegenüber Helfern auf der endlosen Wegstrecke. Mit generalstabsmäßiger Intuition organisiert sie die Fluchtwege. Auf die erfolgreiche „Sklavendiebin“ werden bald Kopfgelder ausgesetzt – von bis zu 40.000 Dollar. Gern erzählt sie, wie sie den Sklavenjägern und deren geifernden Bluthunden ein Schnippchen schlug: „Und nie verlor ich auch nur einen einzigen Schützling.“ Natürlich hätte selbst sie so etwas nicht ohne die „Underground Railroad“ geschafft. In dem 1830 gegründeten Geheimnetzwerk arbeiteten freie beziehungsweise entflohene Sklaven und weiße Sklavereigegner, Abolitionists genannt, Seite an Seite. Rund 50.000 Menschen wurden in die Nordstaaten oder ins kanadische Exil geschleust. Durch die um sich greifende Fluchtbewegung geriet letztlich auch die Regierung in Washington mehr und mehr unter Handlungsdruck.
Nicht zu Unrecht kreisen die meisten biografischen Schilderungen um Harriets Fluchthilfe-Zeit bei der „Underground Railroad“. Und doch legte sie erst richtig los, als sie endlich ihre auseinandergerissene Familie zu sich geholt hatte. Mittlerweile lebte sie in Auburn bei New York. Dort lernt sie den freien Sklaven Frederick Douglass kennen. Er verehrt die Mitstreiterin, sieht aber die Lösung des Problems nicht im Exodus in den Norden. Zumal dort ab 1850 ein neues Gesetz gilt: Wieder eingefangene Sklaven sind ihren Besitzern unverzüglich auszuliefern. Für Douglass, den bedeutendsten Afroamerikaner seiner Zeit, steht fest, dass sich ohne bewaffneten Kampf nichts wirklich ändert.
Davon war der militante Abolitionist John Brown schon lange überzeugt; für Südstaatler ist er ein „Terrorist“. Auch sein Weg kreuzt sich mit dem Tubmans. Zwar trägt sie eine Pistole bei sich, aber nicht zum Töten. Doch sie schätzt Brown und berät ihn bei seinem Plan, ein Waffendepot der US-Armee in „Harper‘s Ferry“ zu überfallen. Diesmal jedoch nützen weder Ortskenntnis noch List und Erfahrung von „General Tubman“, wie Brown sie tituliert. Der Angriff von 1859 scheitert kläglich. Browns unrealistische Hoffnung, einen Sklavenaufstand auszulösen, endet mit seiner Hinrichtung. „John Brown‘s Body“ indes wird zur Hymne der Unionssoldaten: „Glory, glory, hallelujah, and his soul is marching on.“
Gleich 1861, zu Beginn des Kriegs gegen die Südstaatenkonföderation, meldet sich Harriet freiwillig als Krankenschwester und Köchin. Eine Schlüsselrolle spielt sie dann in Südcarolina als Kontaktperson zu den Schwarzen jenseits der Front, als Spionin und Beraterin der Unionskommandeure. Ihr taktisches Meisterstück: Bei dem Blitzangriff 1863 am Fluss Combahe befreien Colonel James Montgomery und sein Regiment aus dreihundert schwarzen (!) Soldaten auf einen Schlag achthundert Versklavte. Die Militäroperation sei „unter Führung durch eine schwarze Frau“ erfolgt, schreibt die Presse – eine Sensation und gleichzeitig der öffentliche Fingerzeig auf „Moses“. Ihre Kurzbiografie erscheint kurz darauf. In der Mitte ihres Lebens steht Tubman voll im Rampenlicht, auch international.
Und Harriet? Sie platzt fast vor Stolz: Kein einziger „ihrer“ Soldaten ist getötet oder verwundet worden. Welcher Kampfesmut und welche Opferbereitschaft! Immerhin droht ihnen bei Gefangennahme geteert, gefedert und verbrannt zu werden! Hatte nicht Harriet zusammen mit Montgomery von Anfang an auf Bewaffnung und Kriegsteilnahme der ehemaligen Sklaven gedrungen? Sie selbst betreut die Unionstruppen weiterhin als Agitatorin und Sanitäterin, mit kurzen Unterbrechungen. Und wie dankt es ihr die Regierung nach dem Krieg? Gar nicht. Jahrelang muss sie um Sold und Pension kämpfen.
Zehn Tage nach der Südstaaten-Kapitulation wird Präsident Abraham Lincoln ermordet. Jetzt erst recht pochen Tubman und Douglass auf die Bürgerrechte für Schwarze und Farbige. Wer mit der Waffe in der Hand die Regierung verteidigt habe, sei wohl auch fähig zu wählen, erklärt Douglass ironisch. Tubman stürzt sich in die Kampagne für das allgemeine Wahlrecht, für Schwarze wie für Frauen. („Indianer“ waren damals noch nicht auf dem Schirm.) Wie auch Douglass predigt Harriet in ihrer „afrikanischen“ Kirchengemeinde in Auburn, einem ehrwürdigen Zufluchtsort für Schwarze. Nebenbei nimmt sie sich Zeit für die Eltern und für die Einrichtung eines Pflegeheims für Afroamerikaner, eines der ersten dieser Art.
Hat sie noch ein Privatleben? Eines Tages taucht ein schmucker Bürgerkriegsveteran namens Nelson Davis auf und Harriet heiratet zum zweiten Mal. Von Ex-Mann John Tubman, einem freien Sklaven, der damals nicht mit ihr fliehen wollte, hört sie nur noch einmal: Als der längst wiederverheiratete Familienvater von einem weißen Rassisten ermordet wird.
Dass Davis 20 Jahre jünger ist, stört beide nicht. Ihr exaktes Alter kennt sie ohnehin genauso wenig wie alle Versklavten. Fotos von Harriet zeigen eine adrette Lady mit markanten Wangenknochen. Ein Auge wirkt kleiner, Folge eines Schädel-Hirn-Traumas. Die Zwölfjährige hatte sich einem Aufseher in den Weg gestellt. Das Bleigewicht, das einem weggerannten Sklaven zugedacht war, traf sie am Kopf. Zwei Wochen lag sie im Koma. Zeit ihres Lebens litt sie unter Kopfschmerzen und plötzlicher Ohnmacht, was manche als Zustand religiöser Entrückung deuteten.
Dennoch überlebt sie fast alle: Ihre zwei Ehemänner, Douglass und Montgomery, und auch den General Robert E. Lee. 1890 wird in seiner Heimat Virginia eine pompöse Reiterstatue des Konföderiertenhelden eingeweiht. Ja, genau diese Statue in Charlottesville ist jetzt zum Abriss freigegeben! Und nicht nur diese.
Als Harriet 1913 hochbetagt stirbt, erweist ihr eine riesige Trauergemeinde die letzte Ehre, Schwarze und Weiße Seite an Seite. Ihr Leben war wie „ein großer Abenteuerfilm“, meint die Afroamerikanerin Kasi Lemmons, „über eine sehr kleine schwarze Frau, die unglaublich Großes tat.“ Eine Frau, die Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung nicht als tragische, unveränderliche Tatsache akzeptierte, sondern zeigte, dass es Mittel und Wege dagegen gibt.