Über Wanderungsbewegungen im Kapitalismus und die Grundzüge einer linken Migrationspolitik

Eine Frage des Maximalprofits

Artur Pech

Es vergeht kein Tag, an dem nicht nach einer härteren Gangart im Umgang mit Flucht und Migration gerufen wird. Gefordert werden schnellere Abschiebungen, schlechtere Bedingungen in den Asylunterkünften und flächendeckende Grenzkontrollen. In seinem Buch „Marx und Engels über Migration“ widmet sich Artur Pech den Grundsätzen einer linken Migrationspolitik. Auf Basis umfangreichen Quellenmaterials und unter Zuhilfename ökonomischer Daten macht er sich auf die Suche nach den Prozessen hinter der Migration und nach internationalistischen Antworten auf eine – oft genug auch in linken Kreisen – verworrene Debatte. Wir dokumentieren an dieser Stelle das gekürzte und redaktionell leicht bearbeitete Kapitel „Linke Migrationspolitik – worum geht es?“

Linke Migrationspolitik muss grundsätzlichen Entwicklungen Rechnung tragen: Da ist die wissenschaftlich-technische Entwicklung, die die gesellschaftliche Arbeitsteilung immer weiter vertieft, Kommunikation und Verkehr weltweit erleichtert und die materiellen Voraussetzungen für die Globalisierung schafft. Dieser materielle Prozess ist unumkehrbar, schreitet immer weiter voran, erweitert die technischen und infrastrukturellen Bedingungen für die Migration und erzwingt zugleich Migration.

Da ist als eine Folge der wissenschaftlich-technischen und industriellen Entwicklung der menschengemachte Teil der Klimaveränderungen, der wesentlich auf die industrielle Entwicklung seit der Erfindung der Dampfmaschine zurückgeht und Migration erzwingt.

Da sind die unterschiedlichen Werte der Ware Arbeitskraft (nicht erst ihr Preis, nicht erst die Lohnunterschiede) in den verschiedenen Ländern, die immer direkter aufeinandertreffen und die daraus resultierende Frage, wer unter den Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung diese Unterschiede zu seinem Vorteil nutzen kann. Diese Frage wird letztlich nicht durch die individuelle Migrationsentscheidung oder abstrakte Moral, sondern durch das Kräfteverhältnis im Klassenkampf entschieden.

Da sind die Positionsverluste der bisher die Welt und den Weltmarkt beherrschenden Mächte, deren Migrationspolitik zugleich Mittel der Ausplünderung anderer Länder, Teil der Verteidigung ihrer Vorherrschaft und Waffe in den internationalen Auseinandersetzungen ist.

Da sind die Kriege, die Fluchtbewegungen erzwingen und ihre Hauptursache in den Veränderungen der weltweiten wirtschaftlichen Verhältnisse haben. Das sollten gerade Linke nicht vergessen, die in der Tradition der sozialistischen, der internationalen Arbeiterbewegung stehen, denn zu der Erkenntnis, dass Kriege zwischen kapitalistischen Staaten „in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte“ sind, fand schon 1907 der Internationale Sozialistenkongress zu Stuttgart.

Da ist existenzielle Not, die Flucht hervorbringt. Da geht es nicht um die Suche nach dem besseren Leben, da geht es um das Überleben, denn in der realen Welt dieser Tage ist jeder zehnte Mensch unterernährt.

Und da ist die „Lifestyle-Migration“ – insbesondere aus den reichen Ländern des Nordens. Eine Migration von vergleichsweise wohlhabenden Personen an Orte, von denen sie sich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung oder eine höhere Lebensqualität versprechen. Deren Nutznießer beeinflussen kraft ihrer materiellen Möglichkeiten auch den Diskurs über die Migration wesentlich.

Die Humanisierung des Regimes, dem die Migration unterliegt, muss ein wesentliches Anliegen linker Politik sein und bleiben. Darin darf sie sich aber nicht erschöpfen, denn das wäre letztlich die Kapitulation vor den kapitalistischen Verhältnissen. Aus der ungleichen Entwicklung, aus den Positionsverlusten der Länder des „alten“ Kapitals resultiert für linke Migrationspolitik in diesen Ländern ein besonderes Problem, dessen Kern bereits Friedrich Engels im Vorwort zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieb:

„Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols … Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein – die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen – eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslandes.“ Mit der Furcht vor einer solchen Entwicklung haben wir es heute auch in Deutschland zu tun.

Auf den ersten Blick scheint die Verteidigung des Monopols der reichen „Länder des Nordens“ damit auch im Interesse ihrer – wie es jetzt heißt – „abhängig Beschäftigten“ zu sein. Das liefe dann auf eine Unterstützung der Fortsetzung der Ausplünderung ärmerer Länder hinaus und hätte mit Internationalismus nichts zu tun. Sozialistischer Internationalismus bedeutet dagegen, auch hinsichtlich der Migration „in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats“ zur Geltung zu bringen und „stets das Interesse der Gesamtbewegung“ zu vertreten, wie es bereits im Kommunistischen Manifest heißt.

Sozialistischer Internationalismus muss damit die Interessen der arbeitenden Klassen der Herkunftsländer ebenso einschließen wie die der Zielländer. Das verträgt sich nicht mit der Förderung der Migration zur Lösung zum Beispiel von Fachkräfteproblemen im eigenen Land auf Kosten der Herkunftsländer oder mit Lohndrückerei durch Erhöhung des Arbeitskräfteangebots in den Zielländern.

Die Behauptung, wer die Ausplünderung anprangert, verschiebe die Herstellung (Wahrung?) eines Grundrechtes in eine nachkapitalistische Gesellschaft, zeugt wohl auch von dem Glauben an die Möglichkeit eines gerechten Kapitalismus. Das provoziert die Gegenfrage: Wie gerecht kann Kapitalismus sein? Welches Maß an Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist gerecht?

In der Geschichte gab es Zeiten, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte auf die Entwicklung der Bevölkerung drückte – und andere Zeiten, in denen es umgekehrt war. Das begann nicht erst mit dem Kapitalismus. (…) Was sich über die Jahrhunderte geändert hat, sind nicht die Triebkräfte, sondern die Erscheinungsformen und die Bedingungen, unter denen sie wirken. Heute müssen Linke sich der Forderung verweigern, die Zahl der Arbeitenden den Bedürfnissen des kapitalistischen Marktes anzupassen. Es muss vielmehr umgekehrt darum gehen, die Wirtschaft den Bedürfnissen der Menschen anzupassen.

Der Klassenstandpunkt

Wenn die Lohnarbeit „ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich“ beruht, dann ergibt es keinen Sinn, diese Konkurrenz zwischen Eingewanderten und Ansässigen zu bestreiten. Ein Klassiker zu Fragen der Migration ist die „Lage der arbeitenden Klasse in England“ von Friedrich Engels aus dem Jahre 1845. Für deren Ausgabe 1892 hat er den Erkenntnisfortschritt konstatiert. Danach gab es 1892 Leute genug, die den Arbeitern von der Unparteilichkeit ihres höheren Standpunkts einen über allen Klassengegensätze und Klassenkämpfe erhabenen Sozialismus predigten. Sie waren nach seinen Worten „entweder Neulinge, die noch massenhaft zu lernen haben, oder aber die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz“. Es gibt Gründe genug, daran zu erinnern.

Zur Lage der Arbeiterklasse stellte er fest: „Zeitweilig gab es Besserung, selbst für die große Masse. Aber diese Besserung wurde immer wieder auf das alte Niveau herabgebracht durch den Zustrom der großen Menge der unbeschäftigten Reserve, durch die fortwährende Verdrängung von Arbeitern durch neue Maschinerie und durch die Einwanderung der Ackerbauarbeiter, die jetzt auch mehr und mehr durch Maschinen verdrängt wurden.“

Nationalismus, Internationalismus und Migration

Es gibt vielfältige Grenzen. Hier geht die Rede von der Migration über Staatsgrenzen. Und da gilt: Ohne Territorium („Hoheitsgebiet“), Bevölkerung („Staatsvolk“) und Staatsgewalt („Militär, Polizei, Justiz“) gibt es keinen Staat. (…) Die vollständige Öffnung der Staatsgrenzen liefe also auf die Abschaffung des Staates hinaus. Wohlgemerkt: nicht nur des Nationalstaates, sondern des Staates überhaupt und auch staatsähnlicher Konstrukte wie der Europäischen Union oder „multiethnischer“ (Vielvölker-)Staaten.

Und wer Einschränkungen vornimmt, indem er mit offenen Grenzen „nur“ die Forderung nach einem speziellen Grenzregime beschrieben sehen will, der muss konkreter werden. Wofür sollen die weiter bestehenden Staatsgrenzen offen sein und wofür nicht, was soll an den Staatsgrenzen enden und was nicht? Wer sich diesen Fragen stellt, wird dann auch zu sagen haben, wie die Durchsetzung einer solchen Ordnung aussehen soll. Die Fragen lassen sich moralisierend nicht erledigen. Und es führt in die Irre, die Berücksichtigung objektiver Faktoren bei der Bestimmung der Position zu „offenen Grenzen“ als nationalistisch darzustellen.

Es ist mehrfach falsch, wenn es heißt: „Aus Sicht der politischen Linken war und ist Migration der Gegenentwurf zum Nationalismus.“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“) Migration ist der gesellschaftliche Prozess, mit dem sich die Verteilung der Menschen auf der Erde ändert, und Nationalismus eine Ideologie. Es kann sich also nicht um aufeinander bezogene korrelative Begriffe (Gegenentwürfe) handeln.

Aber auch die Annahme, die Förderung von Migration sei Ausdruck von Internationalismus, geht an den Tatsachen vorbei. Konkrete Migrationsbewegungen können Ausdruck von Internationalismus, aber auch von nationalistischen Kräften erzwungen sein, denn es gibt kein Ankommen ohne Fortgehen. Der Umgang mit den Menschen, die davon betroffen sind, kann wiederum sehr wohl von internationalistischen Positionen getragen sein. (…)

Gregor Gysi suchte in seiner Rede auf dem Leipziger Parteitag der „Linken“ eine Antwort auf die soziale Frage als Menschheitsfrage. Er kam dabei zu der Forderung: „Unser Kampf muss sich nicht darauf richten, Niedriglohnkonkurrenz durch Begrenzung von Arbeitsmigration auszuschließen, sondern darauf, die Löhne für alle zu erhöhen.“

Was aber tun, wenn Arbeitsmigration zum Beispiel in der Pflege gefördert wird, um billigere Arbeitskräfte zu importieren? Ist tatsächlich die Erwartung realistisch, bei einem durch Migration vergrößerten Angebot höhere Preise (Löhne) durchsetzen zu können? Oder gilt nicht auch und gerade in diesem Falle – wie bereits erwähnt: „Entweder muss man die gesamte politische Ökonomie, wie sie gegenwärtig besteht, ablehnen, oder man muss zulassen, dass unter der Handelsfreiheit die ganze Schärfe der Gesetze der politischen Ökonomie gegen die arbeitende Klasse angewandt wird.“ (Engels: Der Freihandelskongress in Brüssel) (…)

Es mag ja sein, dass Linke sich etwas darauf zugutehalten, die Nation als bürgerliche Erfindung abzutun. Aber ist es tatsächlich zu begrüßen, dass in Bulgarien im Jahr 2021 mit 6,9 Millionen Einwohnern rund 1,2 Millionen weniger lebten als im Jahr 2000? Dass sich zugleich die Netto-Wanderung allein nach Deutschland (Saldo aus Zu- und Fortzügen) auf 350.000 Menschen belief? Dass das im Vergleich zu Bulgarien reiche Deutschland fast 2.000 bulgarische Ärzte beschäftigte und so allein an Ausbildungskosten 400 Millionen Euro auf Kosten Bulgariens sparte? (…)

Wenn der Ansatz von Gregor Gysi als Forderung nach gleichem Lohn für gleiche („gleichwertige?“) Arbeit verstanden werden soll, dann kommt eine weitere, in der gegenwärtigen Diskussion ausgeblendete Frage auf den Tisch: Die Frage nach dem Wert der Ware Arbeitskraft. Der unterscheidet sich schon innerhalb der Europäischen Union erheblich. Diese Unterschiede stimulieren Migration und sind eine Quelle von (Extra-)Profit, wenn über den Zustrom von Arbeitskräften die entsprechenden Reproduktionskosten im „eigenen“ Land eingespart werden. Das geht dann freilich auf Kosten der Volkswirtschaften der Länder, aus denen diese Arbeitskräfte kommen. (…)

Der von internationalistischen Positionen getragene Kampf um die vollständige Gleichbehandlung der Menschen, die in Einwanderungsländer kommen, richtet sich letztlich gegen eine Seite der Verwertung solcher Unterschiede. Aber selbst die vollständige Gleichbehandlung (Nicht-Diskriminierung) ist nur eine Bedingung für die Abwehr von Lohndumping durch Einwanderung. Auch die vollständige Gleichbehandlung ändert nichts daran, dass der Import von Arbeitskräften durch die Vergrößerung des Angebots der Ware Arbeitskraft auf deren Preis (Lohn/Gehalt) drückt.

Darüber hinaus bereichern sich die Gesellschaften in Einwanderungsländern durch die Aneignung der in den Herkunftsländern unter großen Anstrengungen entwickelten Potentialen und ihre Einwanderungs- und Integrationspolitik trägt dazu bei. Diese Ausplünderung treibt die Migration. Deren gewünschter Teil („Fachkräfte“, Ärzte und so weiter) ist willkommen. Der ungewünschte Teil wird mit administrativen, polizeilichen und militärischen Mitteln bekämpft. Interessengeleitet soll der Kampf gegen diese Opfer der kapitalistischen Ökonomie dann als Durchsetzung des Rechts verkauft werden. (…)

Das ist letztlich eine Frage des Maximalprofits. Rassismus und ähnliche Begleiterscheinungen sind nachrangig. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Bereicherung eines Landes auf Kosten des anderen und der Bereicherung einer Klasse auf Kosten einer anderen im Lande. Wer nicht begreifen kann, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, wird noch weniger begreifen, „wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann“, wie Marx in seiner „Rede über die Frage des Freihandels“ schrieb. In den „Zielländern“ wird so der Preis der Arbeitskraft gedrückt, die Herkunftsländer werden für ihre Entwicklung bitter notwendiger Potentiale beraubt und damit auch in Abhängigkeit gehalten. Das ist klassischer Imperialismus, eine moderne Form der Ausplünderung.

Artur Pech
Marx und Engels über Migration. Einführung für den politischen Gebrauch
Neue Impulse Verlag, 9,90 Euro
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"Eine Frage des Maximalprofits", UZ vom 1. November 2024



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