Vor 175 Jahren erschien das „Kommunistische Manifest“

Eine Erfolgsgeschichte

Wichtige Bücher hinterlassen ihre Spuren in der Geschichte auf vielfache Weise. Als in diesem Februar die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ihre Entschlossenheit bekräftigte, für eine Lohnerhöhung von 12 Prozent, mindestens aber 650 Euro zu kämpfen, druckte sie auf eines ihrer Plakate folgenden Satz: „Eisenbahner:innen aller Bahnen, vereinigt Euch!“

Vor 175 Jahren erschien in einer Auflage von 1.000 Exemplaren in London die erste Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei“ – geplant war die Veröffentlichung in gleich sechs Sprachen, um den internationalen Anspruch der Bewegung deutlich zu machen. Auf dem Titelblatt der Erstausgabe prangte der letzte Satz des Textes: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Ob die EVG sich dessen nun bewusst ist oder nicht – die veränderte Hereinnahme dieser berühmten Losung in die laufenden Tarifauseinandersetzungen ist ein Geburtstagsgeschenk, über das sich Karl Marx und Friedrich Engels gefreut hätten.

manifest - Eine Erfolgsgeschichte - Friedrich Engels, Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei - Theorie & Geschichte

Geschrieben haben die beiden recht jungen Kerls – beide keine 30 Jahre alt – das schmale Bändchen ziemlich flott: Sie brauchten dafür nur die Wintermonate Dezember und Januar und schon einen Monat später ging es in Druck. Bereits am 29. November 1847 hatten Marx und Engels den Gründungsmitgliedern des „Bundes der Kommunisten“, der aus dem „Bund der Gerechten“ hervorgegangen war, ihren Entwurf vorgelegt, der dort einstimmig verabschiedet wurde – verbunden mit der Auflage, die in der Diskussion vorgetragenen Anregungen zu berücksichtigen. Die Geschwindigkeit, mit der dann innerhalb weniger Wochen das Werk aus einem kleinen Londoner Versammlungsraum in die Öffentlichkeit gelangte, ist nicht nur ein bis heute gültiger Hinweis, die Qualität inhaltlicher Debatten in der kommunistischen Bewegung nicht nach ihrer Länge zu bemessen. Sie ist auch der Tatsache geschuldet, dass alle an dem damaligen Prozess Beteiligten angesichts der herannahenden 1848er-Revolution spürten, dass es jetzt ums Tempo gehe. Auch das mag eine Lehre für die Art und Weise des Arbeitens in der Kampfetappe sein, die jetzt vor uns liegt.

Wie eine Symphonie …

Otto Marx, der jahrzehntelang an der Karl-Liebknecht-Schule in Leverkusen künftigen und gestandenen Kommunistinnen und Kommunisten unter anderem das „Manifest“ nahebrachte, begann seine Einführung häufig mit dem für viele unerwarteten Hinweis, dass das Werk aufgebaut sei wie eine Symphonie: Es beginnt mit einem Prolog ohne Überschrift, in dem alle wesentlichen Aspekte des Werks bereits anklingen, bevor es zu den einzelnen Kapiteln übergeht, in dem diese Aspekte dann vertieft werden. Das Schlusskapitel, das die „Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien“ behandelt, fasst wesentliche Erkenntnisse zusammen und lässt sie – noch vor dem bereits erwähnten Schlusssatz – in der klaren, bis heute gültigen Aussage münden: „In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.“

Der Prager Musiker Erwin Schulhoff, der 1942 in Bayern in einem der Lager der Faschisten verreckte, die deutsche Herrenmenschen für solche wie ihn, die „entartete Musik“ komponierten, errichtet hatten, hat 1932 das „Manifest“ vertont – und so deutlich gemacht, dass es sich bei diesem Werk nicht nur im literarischen Sinne um eines der herausragenden Kunstwerke der Menschheitsgeschichte handelt.

… die auf dem ganzen Erdball erklingt

Wer bei Google nach den Büchern mit den meisten Auflagen forscht, bekommt etwas widersprüchliche Aussagen über die genaue Reihenfolge. Aber vier Werke werden unter den „Top Five“ immer aufgeführt: die Bibel, der Koran, die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“ und eben das „Manifest“, das in alle gängigen Sprachen der Welt übersetzt wurde. Zwei dieser Werke also sind die Grundlage von religiösen Bewegungen und damit Schriften des philosophischen Idealismus, zwei sind Werke der heute einflussreichsten politischen Bewegung und Schriften des philosophischen Materialismus. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das eine – die „Worte des Vorsitzenden“ – auf dem Manifest aufbaut, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es in der Geschichte der Menschheit keinen Text gegeben hat, der bis heute eine solche Wirkung entfaltet wie diese Winterarbeit der beiden jungen Deutschen.

Zuweilen verzagen diejenigen, die in der Tradition von Marx und Engels ihr Leben der Befreiung der Menschheit vom Joch der Profitmacherei widmen, angesichts der scheinbaren Langsamkeit der Geschichte. Aber geschichtliche Prozesse halten sich nicht an den Maßstab eines einzelnen Menschenlebens. Sie bemessen sich nicht nach Jahren, sondern nach Jahrzehnten und Jahrhunderten. Angesichts dessen ist die Entwicklung der kommunistischen Bewegung, deren Geburtsurkunde das „Manifest“ ist, rasant. Um das zu begreifen, reichen vier Zahlen: Als mit der Pariser Kommune 1871 der erste Versuch, eine neue Gesellschaft zu errichten, praktische Gestalt annahm, beteiligten sich daran 1,8 Millionen Menschen. Nach 72 Tagen war der Versuch blutig niedergeschlagen. Diese Niederlage war aber nur eine Etappe vor dem sich anschließenden Siegesmarsch der Gedanken des „Manifests“: Mit der Oktoberrevolution machten sich in Russland 1917 bereits 180 Millionen auf den Weg, diese Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen. Durch den nächsten revolutionären Schub nach dem Sieg über die faschistischen Regime in Europa und das Militaristenregime in Japan überstieg die Zahl der Menschen, die sich nicht nur theoretisch, sondern praktisch auf den Weg begeben hatten, die Milliardengrenze. Die schwere Niederlage der vor allem in Europa wirkenden Linkskräfte von 1989 bis 1991 hat an diesem grundsätzlichen Trend nichts geändert. Heute leben weltweit rund 1,5 Milliarden Menschen in Staaten, deren erklärtes Ziel es ist, den Kapitalismus hinter sich zu lassen und entsprechend den Lehren von Marx und Engels über den Sozialismus zum Kommunismus zu gelangen.

Globalisierung, Proletariat, Streitbarkeit

Um die Aktualität des „Manifests“ zu begreifen, reicht es, auf drei Aspekte dieses Werks hinzuweisen.

Gleich im ersten Abschnitt, den sie mit „Bourgeois und Proletarier“ betitelten, wiesen Marx und Engels auf den Drang zur Herstellung eines einheitlichen Weltmarkts hin: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet.“ Niemand hat Mitte des 19. Jahrhunderts die Triebkraft zur Globalisierung prägnanter dargestellt als die beiden Klassiker. Das ist von hoher Aktualität zu einer Zeit, in der die alten Mächte – also die USA, die EU und Japan – in maßloser Überschätzung ihrer Kräfte versuchen, Russland und sogar China mit Sanktionen zu überziehen, die freilich nur einen Effekt haben: die Globalisierung zu erdrosseln. Zehn Jahre nach Erscheinen des „Manifests“ bezeichnete Marx in einem Brief „die Herstellung des Weltmarkts“ als die „eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft“. Diese Aufgabe vermasselt letztere allerdings gründlich – Weltmarkt, das spürt sie, könnte in Zukunft etwas sein, was nicht mehr nach den Regeln der Wall Street funktioniert.

Die treibende Kraft einer ganz neuen Gesellschaftsformation, die sich in einem langen Prozess in die Wirklichkeit vorkämpft, wird im zweiten Abschnitt des „Manifests“ in den Blick genommen, den Marx und Engels – anknüpfend an den ersten – mit den Worten „Proletarier und Kommunisten“ überschrieben. Diesen Abschnitt sollten sich all jene übers Bett nageln, die glauben, irgendein ernster Schritt in eine andere Welt könne gegangen werden ohne die Proleten dieser Welt – Proletinnen eingeschlossen. Andere Klassen und Schichten mögen ihre Rolle spielen – aber jede Hoffnung, die vor allem auf Intellektuelle, Abgehängte oder Minderheiten baut, führt in Sackgassen und Irrwege.

Und damit sind wir beim dritten Abschnitt und dem dritten Grund für die Aktualität des „Manifests“: Streitbarkeit. Ein Drittel des Textes widmeten Marx und Engels dem stellenweise polemischen Abledern anderer Positionen, die sich als sozialistisch verstanden. Der Abschnitt macht klar: Kommunistinnen und Kommunisten sind keine Kuschelsozialisten, die sich bei allen lieb Kind machen wollen. Ihr Erfolg beruht auch auf ihrer Streitbarkeit.

gespenst schwarz trans - Eine Erfolgsgeschichte - Friedrich Engels, Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei - Theorie & Geschichte

„Ein Gespenst geht um …“

Überholt sind allerdings die berühmten ersten beiden Sätze des „Manifests“: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet …“. Dieses Gespenst, gegen das sich alle Vertreter der Mächte der alten Welt verbündet haben, spukt in ihren Köpfen jetzt nicht nur europa-, sondern weltweit herum. Am 18. Februar beklagte das wichtigste Selbstverständigungsorgan der deutschen herrschenden Klasse – die „FAZ“ – bitter die Siegeszuversicht der chinesischen Führung, die auf einer Sitzung des Politbüros der Kommunistischen Partei den „großen und entscheidenden Sieg“ über das Corona-Virus verkündet und festgestellt habe, dass angesichts von 87.468 Todesopfern der Seuche im Milliardenvolk Chinas kein anderes großes Land eine niedrigere Sterberate vorzuweisen habe. Dieses Selbstbewusstsein erstrecke sich nicht nur auf die Gesundheitspolitik: „In einer Grundsatzrede über die ‚chinesische Modernisierung‘ sagte er (Xi Jinping – M. S.), diese habe den ‚Mythos‘ widerlegt, wonach ‚Modernisierung Verwestlichung heißt‘. Das chinesische (kommunistische) Gesellschaftsmodell sei eine ‚brandneue Form der menschlichen Zivilisation‘, die Entwicklungsländer mit einer neuen Wahlmöglichkeit ausstatte. Es erreiche ‚höhere Effizienz als der Kapitalismus und zugleich mehr soziale Gerechtigkeit.‘“

Das „Gespenst des Kommunismus“ ist dabei, den Globus zu erobern – nach der erstaunlich kurzen Zeit von erst 175 Jahren nach dem Erscheinen des grundlegenden Werks der kommunistischen Weltbewegung: des „Manifests der Kommunistischen Partei“.

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"Eine Erfolgsgeschichte", UZ vom 24. Februar 2023



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