Die allergrauenvollsten Abschnitte der Weltgeschichte sind diejenigen, in denen selbst ein rechter Sozialdemokrat merkt, was los ist. Er versteht es nicht, aber er merkt’s und sagt’s immerhin.
Olaf Scholz hat also am 27. Februar des Jahres 2022 das Wort „Zeitenwende“ in den Bundestag geschmissen. Es ist wahr, eine Wende findet ja statt, wenn es bislang normal vorwärts aus der Vergangenheit in irgendeine Zukunft ging, schön oder nicht, aber jetzt in die Gegenrichtung gehen soll. Rückwärts. Wer schon ein paar Minuten länger in dieser Bundesrepublik zuhause ist, reibt sich die Augen: Sogar eine Raketenstationierung ist jetzt wieder angesetzt, wie damals im „heißen Herbst“ 1983.
Damals hieß der rechte Sozialdemokrat im Chefsessel Helmut Schmidt, aber der Name ist egal, diese Sorte Sozialdemokratie kennt man seit 1914. Zeitenwende also: Statt wenigstens, was traurig genug wäre, im Namen eines halbwegs erträglichen Burgfriedens zwischen den Klassen dafür zu sorgen, dass die sogenannte digitale Transformation als jüngste Version der brutalen Trennung aller arbeitenden Menschen von der Verfügung über die allerneuesten Produktionsmittel in Europa nicht ganz so hals- und verbrecherisch läuft wie in den USA, weil hier immerhin Reste von Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu retten wären, liest Scholz lieber vor dem Einschlafen im Bett Kataloge voller Luftabwehrsysteme, Kamikazedrohnen und Mittelstreckenraketen drin. Im Schlaf, bei bösen Träumen, bestellt er dann mit unruhigem Gemurmel den ganzen Dreck über Alexa bei Amazon.
1983 war die Kriegsvorbereiterei noch umständlicher, denn die Grünen waren dagegen. Deren Milieublatt, die sogenannte „Tageszeitung“ (die sich vielleicht der Überschaubarkeit halber in Tageszeitenwendung umbenennen sollte), hat auch heute was zu mäkeln, aber diesmal nur an der Form, nicht am tödlichen Inhalt solcher Politik. Da heißt es dann: „Olaf Scholz hat mit den USA den Raketen-Deal klandestin verhandelt“, so beschwert sich Stefan Reinecke in der TAZ vom 14. August. Das Hintenrum-Gemache, findet er, sieht nicht schön aus. Man hätte besser ein bisschen im Parlament diskutiert, hin und her, wie im Pro-und-Contra-Schulaufsatz, der ja auch immer ein bereits vorher feststehendes Resultat hat.
Dann hätten die Leute im Land nämlich gemerkt, wie kompliziert das alles ist, und seufzend mitgemacht, denkt der TAZ-Kommentator. Aber Scholz hat nicht diskutieren lassen und das Ergebnis ärgert den TAZ-Menschen jetzt sehr, wie er schreibt: „In diesem diskursiven Vakuum gedeihen Ängste, die von Populisten wie Sahra Wagenknecht benutzt und geschürt werden. Die Krieg-oder-Frieden-Agitation des BSW ist beschämend unterkomplex.“
Ja ja, die Welt sieht für diejenigen, die einem bereits beschlossenen Wahnsinn noch entgegenstehen, immer so einfach aus. Schade, nicht? Ich wünsche mir sehr, dass alle, die diesen Gruß von mir hier hören, hinreichend kommunistisch informiert sind, um dergleichen Geschwätz von der Komplexität einer in Wirklichkeit skandalös simplen Sache zu durchschauen. Ich gehe eigentlich davon aus, dass ihr Bescheid wisst. Und schließe daher meine entschiedene Ermutigung, dieses Bescheidwissen überall, im Bekanntenkreis, beim Wählen, in der Zeitung der DKP und wo immer sonst, zur Tat werden zu lassen, mit ein paar Worten unseres alten Freundes Bertolt Brecht zur angeblichen Kompliziertheit der Probleme von Leuten wie Scholz oder der TAZ-Redaktion: „Ihre Kompliziertheit ist die Kompliziertheit der Unordnung, ihre Arbeit dient der Aufrechterhaltung und Vergrößerung der Unordnung, aus der sie Gewinn ziehen.“
Brecht meinte ein wirtschaftliches Durcheinander, aber wir wissen, es läuft auf ein militärisches hinaus, das uns umbringen will. Nein, wir machen da nicht mit.
Dietmar Dath ist Schriftsteller und Journalist