Die Ärztin und Kommunistin Ingeborg Rapoport

Ein vollgepacktes Leben

Wer die dritte Staffel der „Charité-Serie“ gesehen hat, wird sich bestimmt an die Kinderärztin erinnern: Ingeborg Rapoport – Kommunistin, Kinderärztin, Begründerin der Neonatologie (Behandlung typischer Erkrankungen von Neu- und Frühgeborenen) in der DDR, Forscherin, Mutter von vier Kindern. Anders als im Film dargestellt, war Ingeborg Rapoport, wie ihr Enkel Daniel in einem Interview mit UZ (siehe Ausgabe vom 12. Februar) feststellte, „viel quirliger, witziger, lustiger, nicht so übertrieben mütterlich und ernsthaft wie dargestellt. Sie hatte immer etwas Mädchenhaftes, bis ins hohe Alter.“ Aber das in der Serie dargestellte „Offene, Zugewandte, tief an Menschen Interessierte, (…) das hatte sie auch“.

Aufsehen erregte Ingeborg Rapoport hierzulande, als sie im Mai 2015 mit 102 Jahren erfolgreich die Prüfung zu einer Doktorarbeit bestand, deren Verteidigung man ihr 77 Jahre zuvor in Hitlerdeutschland verweigert hatte. Die Hamburger Universität wollte Unrecht wiedergutmachen. Ingeborg Rapoport hatte großen Wert darauf gelegt, ihre Arbeit zu verteidigen und den Titel nicht nachträglich geschenkt zu bekommen. Auf die Prüfung hatte sie sich gründlich vorbereitet.

Mit gelber Studentenkarte

Ingeborg Syllm wurde am 2. September 1912 als Tochter eines Kaufmanns und einer jüdischen Musikerin in Kribi, Kamerun, geboren, verbrachte aber ihre Kindheit und Jugend sowie die Studienjahre in Hamburg.

Schon früh hatte sie den Wunsch, Ärztin zu werden: „Ich operierte meinen Bären, der zu meinem Erstaunen statt eines Blinddarms Sägespäne in seinem Bauch enthielt“, erzählt sie in ihrer Autobiografie „Meine ersten drei Leben“. Sie verfolgte ihr Ziel mit großer Konsequenz. 1927 trennten sich die Eltern, der Vater hatte das Vermögen der Mutter verschleudert und das Geld war knapp. Um ihren Traum verwirklichen zu können, gab Ingeborg Syllm aber schon von ihrem 13. Lebensjahr an Nachhilfestunden für Kinder begüterter Familien. „Als Fräulein Warnick, eine Dame aus einer dieser Familien, davon erfuhr, bot sie mir ein Stipendium an, das sie bis zu meinem Staatsexamen zahlte, auch dann noch, als ich bereits mit gelbem Judenausweis studierte. Meine kleine Omima gab ihr dieses Geld als meinen ‚Anteil an ihrem Erbe‘ bei ihrer Auswanderung zurück. Ohne Fräulein Warnick hätte ich in Hitlerdeutschland nicht zu Ende studieren können, da für ‚Jüdischstämmige‘ keine Leistungsstipendien mehr gegeben wurden.“ Im Frühjahr 1932 begann sie mit dem Medizinstudium. Als Studentin, so ihre Selbsteinschätzung, sei sie dann aber dabei nie sehr fleißig gewesen. „Erst wenn es ein Problem gibt, erwacht mein intellektueller Eifer (…).“

1933 erhielt Ingeborg Syllm eine gelbe Studentenkarte und durfte während ihrer weiteren Studienjahre die Mensa der Universität nicht mehr betreten. Als einzige erhielt sie den Prüfungsbogen mit gelbem Streifen. Trotz aller Schikanen und Beschränkungen konnte sie 1937 noch ihr Staatsexamen ablegen. 1937/38 entstand am Israelitischen Krankenhaus Hamburg zudem ihre Dissertationsschrift über Lähmungserscheinungen bei Diphtherie. Zwar erkannte ihr Doktorvater, der Kinderarzt Prof. Rudolf Degkwitz, die Arbeit an und registrierte sie. Doch obgleich er sich persönlich dafür einsetzte, dass Ingeborg Syllm diese Arbeit auch in einer mündlichen Prüfung verteidigen konnte, wurde ihr dies als Halbjüdin verweigert. Als „Mischling ersten Grades“ und beim „jüdischen Teil der Eltern lebend“, durfte sie in Hitlerdeutschland „nicht doktorieren“. Und auch Arbeit war nicht in Aussicht.

„Karriere“ in den USA

Nachdem eine Bewerbung bei Albert Schweitzer in Lambarene erfolglos blieb, emigrierte sie 1938, wie ein Teil der Familie, in die USA und begann als unbezahlte Ärztin im Praktikum (Internship) in Brooklyn und Akron, Ohio, ihren Weg. Das bedeutete nicht nur, ohne Gehalt zu arbeiten, sondern auch, alle Abteilungen eines Krankenhauses kennenzulernen. Sie bekam lediglich kleine Stipendien, lebte außerordentlich bescheiden.
Da sie keinen Doktortitel (MD – Doctor of Medicine) hatte, der nötig war, um in den USA als Ärztin praktizieren zu können, musste sie sich ab 1942 für ihr weiteres Fortkommen am Woman’s Medical College of Pennsylvania, einer Lehranstalt ausschließlich für Frauen, entsprechend qualifizieren. Ihr Spezialgebiet wurde die Pädiatrie. In diesen Monaten lernte sie, dass in den USA – wie noch heute – die soziale Stellung der Kranken sowie ihre Hautfarbe darüber entschieden, ob sie überhaupt und wie sie behandelt wurden. Charlotte Misselwitz schrieb in einem Beitrag für die „Berliner Zeitung“ am 11. Januar 2021: „Sie hatte vor ihrer Flucht aus Deutschland erlebt, wie Juden nicht mehr in Krankenhäusern behandelt werden durften. Dann, in den USA, durfte sie als Rettungsärztin schwarze Patienten nicht in die weißen Krankenhäuser bringen lassen …“ Im Rahmen des Fachs Geburtshilfe musste sie in den Monaten am Woman’s Medical College in die Slums von Phila­delphia zu einer Entbindung: „Von diesem Tag an solidarisierte ich mich mit den Schwarzen, ihr Schicksal war auch meines. Das Unrecht, das man ihnen antat, traf mich gleichermaßen.

Und an diesem Tag tat ich den ersten inneren Schritt hin zur Kommunistischen Partei.“ Unter dem Eindruck der Rassentrennung in den USA wurde sie nach eigenen Worten „von der gläubigen Christin“ zur Kommunistin.

Persönliches Glück und eine politische Entscheidung

Nachdem sie sich den Titel eines Medical Doctor erarbeitet hatte, war Ingeborg Syllm am Johns Hopkins Hospital tätig und ab 1944 im Children’s Hospital der Universität in Cincinnati, damals die beste Kinderklinik der USA. Dort lernte sie ihren späteren Mann Samuel Mitja Rapoport (1912 bis 2004) kennen. Er war Leiter der Forschungsabteilung, hatte Medizin und Chemie studiert. Ihm gelang es unter anderem durch Einführung der ACD-Lösung für Spenderblut, dessen Verwendbarkeit zu verlängern, was im Zweiten Weltkrieg vielen US-Soldaten das Leben rettete. Von US-Präsident Truman erhielt er dafür den höchsten Orden der USA für Zivilisten (Certificate of Merit). Das war ungewöhnlich. Denn Mitja Rapoport war nicht nur Wissenschaftler, sondern schon seit seiner Jugend in Wien auch politisch aktiv, Mitglied der Kommunistischen Partei der USA und Gewerkschafter.

Ingeborg Rapoport berichtet über ihre ersten Begegnungen: „Mitja (…) machte mit Katie Dodd Visite auf der Säuglingsstation. Es war ein großer Raum mit vielen Säuglingsbettchen, im Hintergrund eine lange Fensterflucht. So traten mir die beiden entgegen, links Mitja, rechts Katie. Ich muss ihnen wohl vorgestellt worden sein, denn ich kann mir nicht denken, dass ich meine Schüchternheit überwunden und dies von mir aus fertiggebracht hätte. Der eine einzige Augenblick funkelnder, flirtender Neugier in Mitjas Augen genügte, mich in unbeschreibliche Verwirrung zu versetzen. ‚Ich gefalle ihm‘, dachte ich.“ Und sie berichtete: „Als er mich am zweiten Tag, nachdem wir uns kennengelernt hatten (…), im Wohnzimmer unseres Internquarters antraf und mir auf den Zahn fühlte, wen ich höher schätzte: Dostojewski oder Tolstoi, und ich mich errötend zu Dostojewski bekannte, hatte ich das schreckliche Gefühl, durch die wesentlichste Prüfung meines Lebens gefallen zu sein.“ Doch dem war gar nicht so. Es entwickelte sich eine enge Liebesbeziehung, aus der auch die Politik nicht „herausgehalten“ wurde. Und so kam es, dass Mitja Ingeborg – sie war kaum drei Monate in Cincinnati – bald fragte, „ob ich in der kleinen Gruppe der Kommunistischen Partei der USA (CP USA) mitarbeiten wolle. Mitglied der Partei konnte ich allerdings erst werden, als ich das US-Citizenship erworben hatte“, also US-Bürgerin wurde. Sie entschied sich. Und auch das war eine Lebensentscheidung.

Zwei Jahre später wurde Hochzeit gefeiert. Beide bekamen vier Kinder: Tom wurde Biochemiker und Zellbiologe, Meiki Mathematiker, Susan wurde Kinderärztin und Lisa übte trotz einer schweren Sehbehinderung den Beruf als Kinderkrankenschwester an der Charité aus.

Neue Heimat: DDR

In der sich nach dem Sieg über das faschistische Deutschland bald zuspitzenden politischen Atmosphäre, dem Kalten Krieg und der beginnenden Kommunistenhatz in den USA wurden beiden durch die Lokalpresse von Cincinnati subversive Aktivitäten unterstellt. Unter anderem wurde gegen Mitja Rapoport der völlig absurde Vorwurf erhoben, er habe einen Anschlag auf die Wasserversorgung der Stadt geplant. Das Krankenhaus bat sie zu erklären, dass sie keine Kommunisten seien. Das lehnten sie ab. Ihre „Verbrechen“? Beide waren Mitglieder der CP USA. 1950 unterschrieben Mitja und Ingeborg Rapoport dann auch noch den Stockholmer Appell zur Ächtung von Atomwaffen. Beide sammelten Unterschriften dafür, warben für Freundschaft mit der Sowjetunion, verteilten Zeitungen, betrieben Agitation und lasen in ihrer Parteigruppe das „Kommunistische Manifest“. Alles subversiv?

Während Mitja Rapoport im Juni 1950 bei einem internationalen Ärztekongress in Zürich eine Rede hielt, kam per Telegramm die Nachricht, dass er und seine Frau von McCarthys „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ vorgeladen werden sollten. Eine Gefängnisstrafe drohte, wenn sie nicht bereit waren, andere zu denunzieren. Ein neuer Abschied wurde nötig: Mitja Rapoport blieb in Zürich, die hochschwangere Inge kam – beide hatten das für diesen Fall vorbereitet – mit den drei Kindern nach. Weder in der Schweiz noch in Österreich, der alten Heimat Mitja Rapoports, gab es jedoch Arbeit für ihn. Die Universität in Wien, die ihm zunächst eine Professur angeboten hatte, machte einen Rückzieher: Die CIA hatte interveniert und gedroht, der Universität die US-Subventionen zu streichen. Israel war für beide auch keine Option. Die Bundesrepublik Deutschland, in der viele der alten Nazis recht bald wieder in Amt und Würden kamen, schon gar nicht.

Heimisch wurden beide – wie nicht wenige jüdische Linke – schließlich in der DDR. Charlotte Misselwitz schrieb in der „Berliner Zeitung“ über die Haltung Ingeborg Rapoports zur DDR: „Wie viele der Juden in der DDR war sie der Überzeugung, die DDR sei das bessere Deutschland gewesen.“ Und das sehr begründet und bis zu ihrem Tod. Wie Charlotte Misselwitz berichtete, schreckte sie „auch keine eventuelle Diskreditierung als Verteidigerin des ‚Unrechtsstaates’ DDR“. Unkritisch war Ingeborg Rapoport jedoch nie. Nötig sei aber eine „höchst differenzierte Betrachtung und Einschätzung dessen, was die DDR wirklich anstrebte und wie viel ihr in der Realität gelang, welche Ursachen zu ihrem Untergang führten und in welchen historischen Zusammenhängen diese vernetzt waren“.

1952 bot die Berliner Humboldt-Universität Mitja Rapoport den Lehrstuhl für Physiologische und Biologische Chemie an und Ingeborg konnte im selben Jahr nach einer Auszeit in der Kinderabteilung des Hufeland-Krankenhauses in Berlin ihre praktische Tätigkeit fortsetzen. Sie wollte aber auch forschen und bewarb sich um eine Aspirantur. 1959 habilitierte sie sich am Institut für Biochemie der Humboldt-Universität zum Thema Magnesiummangel-Tetanie. Von 1959 bis zu ihrer Emeritierung 1973 war sie Dozentin an der Universität und auch als Ärztin im Einsatz, war Professorin mit Lehrauftrag (1964) und ordentliche Professorin der Neonatologie (1968) an der Kinderklinik der Charité. Von 1969 bis 1973 hatte Ingeborg Rapoport an der Humboldt-Universität Berlin den ersten Lehrstuhl für Neonatologie in Europa inne. Gegen ihren Willen erfolgte ihre Emeritierung, aber das bedeutete keinesfalls das Ende ihrer wissenschaftlichen Arbeit. 1984 erhielt sie zusammen mit mehreren Ärzten den Nationalpreis der DDR für Wissenschaft und Technik für den Beitrag zur Senkung der Säuglingssterblichkeit in der DDR unter 0,1 Prozent. Und sie blieb weiter aktiv.

Zum 100. Geburtstag seiner Eltern hielt 2012 der seit den 90er Jahren in den USA lebende und forschende Tom Rapoport in der Leibniz-Sozietät zu Berlin den Festvortrag. Unter anderem beschrieb er seine Mutter mit den Worten: „Meine Mutter ist die personifizierte Neugier. Jede Woche fragt sie nach dem Fortschritt im Labor. Trotz der Distanz kennt sie bis heute meine Mitarbeiter beim Namen und weiß, was jeder tut. Wenn ich nach Berlin komme, muss ich ausführlich Bericht erstatten, muss ich im Detail die Projekte erklären.“
Ingeborg Syllm-Rapoport starb am 23. März 2017 im Alter von 104 Jahren. Bis zu ihrem Lebensende blieb sie ihrer politischen Überzeugung treu. Im Nachruf der Charité hieß es:

„Prof. Rapoport war als leidenschaftliche Forscherin, engagierte Kinderärztin und Lehrerin hoch geschätzt. Dabei war sie auch immer eine streitbare Reformerin und überzeugte Sozialistin.“

Lesetipp:
Ingeborg Rapoport
Meine ersten drei Leben
mit einem Vorwort von Daniel Rapoport
Verlag Neues Leben, 24 Euro
Zu bestellen bei uzshop.de

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"Ein vollgepacktes Leben", UZ vom 9. Juli 2021



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