Letzte Woche Donnerstag: Die Kollegen wurden bereits unruhig, gespannt warteten sie auf die Auszählungsergebnisse zur Urabstimmung darüber, ob bei der Post ein unbefristeter Streik eingeleitet werden soll. Die Verhandlungen waren am 11. Februar nach drei Verhandlungsrunden für gescheitert erklärt worden. Die ver.di-Verhandlungskommission unter Leitung der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Andrea Kocsis, die auch ver.di-Vertreterin im Aufsichtsrat der Deutschen Post ist, hatte der Konzerntarifkommission die Ablehnung des Angebots der Deutschen Post AG empfohlen. Die Konzerntarifkommission wiederum kam dieser Orientierung nach, ver.di leitete eine Urabstimmung unter ihren Mitgliedern ein.
Zeitgleich wurde dieses erste Angebot der Kapitalseite von ver.di öffentlich scharf kritisiert. Zentrale Argumente waren, dass die Auszahlung einer Sonderzahlung, der sogenannten „Inflationsausgleichsprämie“, kein Ersatz für eine Lohnerhöhung sei, sondern diese nur dem Ausgleich bereits bestehender Inflationslasten dienen könne. Außerdem käme eine tabellenwirksame Lohnerhöhung erst sehr spät und schließlich sei die Laufzeit des Tarifvertrags mit 24 Monaten zu lang.
Das Ergebnis der Urabstimmung war deutlich: 85,9 Prozent der ver.di-Mitglieder votierten für die Ablehnung des Tarifangebotes und für unbefristete Streiks. Darauf folgte eine vierte Verhandlungsrunde, in der die Post ein neues Angebot vorlegte. Dieses sieht wieder die Auszahlung einer „Inflationsausgleichsprämie“ vor, wenn auch gestaffelt bis März 2024. Die ersten drei Monate 2023 sollen auf einen Schlag als größere Einmalzahlung in Höhe von 1.020 Euro ausgezahlt werden. In den folgenden Monaten werden monatlich 180 Euro netto ausgezahlt. Tabellenwirksam sind sie nicht. Erst im April 2024 werden die Entgelte um 340 Euro erhöht. Nach den ver.di-eigenen Kriterien, die in der Kritik des ersten Angebots formuliert wurden, würde es sich also erneut um eine Nullrunde bis zum April 2024 handeln.
In einer Telefonkonferenz mit den ver.di-Vertrauensleuten bei der Post, bei der das zweite Angebot vorgestellt wurde, wollten die Berichterstattenden aus der Tarifkommission die eigenen Kriterien jedoch nicht noch einmal anlegen. Nun wurde der Standpunkt vorgebracht, den die Kapitalseite bereits zum Erstangebot vertreten hatte: Geld ist Geld.
An der Verwendung der Inflationsausgleichsprämie entzündet sich ein zweiter Kritikpunkt: Die Zahlung wird als Erhöhung des Vollzeitgehaltes angerechnet, und so erhalten Teilzeitbeschäftigte nur einen Anteil an der Zahlung. Für diese steigen die Preise aber genauso wie für alle anderen. Wäre die Prämie auch als Prämie behandelt worden, hätte diese die Kollegen in Teilzeit genauso entlastet wie die in Vollzeit Arbeitenden. Die Prämie als Lohnbestandteil einfließen zu lassen stellt die in Teilzeit Arbeitenden schlechter. Das hat gerade angesichts der sozialen und geschlechtlichen Zusammensetzung der Arbeiter bei der Post Folgen: Sortierkräfte in Paket- und Briefzentren sowie in den Zustellstützpunkten (ZSP) sind häufig Frauen. Sie arbeiten in den untersten Lohngruppen. Von der Deutschen Postgewerkschaft in fortschrittlicher Absicht einst als Vollzeitarbeitsplätze erkämpft, sind diese Posten seit der Privatisierung zu klassisch „weiblichen“ Zuverdienstjobs geworden. Hier wäre die Chance gewesen, pünktlich zum Internationalen Frauentag in der Tarifpraxis ein Zeichen zu setzen und entsprechende Verbesserungen durchzukämpfen.
Weitere Kritik gibt es an der langen Laufzeit des Tarifvertrages. Sie wurde in den Telefonkonferenzen als Kröte bezeichnet, die man in den Verhandlungen zu schlucken genötigt worden sei. Eine kürzere Laufzeit hätte im Gegenzug weniger materiellen Wert bedeutet, das hätten die „Arbeitgeber“ deutlich gemacht. Das zeigt deutlich die Beschränkung auf die unmittelbaren Verhandlungen: Was für die Kapitalseite machbar erscheint – konkret: was der Preis der Ware Arbeitskraft ist –, ist auch eine Frage des Kräfteverhältnisses. Mit der langen Laufzeit sind die Postler der Inflation fast schutzlos ausliefert, das war zentraler Bestandteil der Kritik des ersten Angebots. Dazu kommt, dass kürzere Laufzeiten eine Mobilisierung der Gewerkschaftsmitglieder und häufigere Ansprachen der Belegschaften möglich und nötig machen. Jeder Tarifkampf ist eine Zeit der Mitgliedergewinnung und eine gute Gelegenheit, kämpfen zu lernen.
Kampf um das Bewusstsein
Während der Warnstreiks gab es Anzeichen, dass „mit angezogener Handbremse“ mobilisiert wurde. So gingen Vertrauensleute mitten in den Kämpfen auf Schulungen und waren an freien Tagen nicht ansprechbar. Informationen zu den bundesweiten Telefonkonferenzen kamen nicht überall an, einige Niederlassungen riefen nicht zum Streik auf, obwohl für ihre Niederlassungen Streikaufrufe existierten. An einigen Orten wurde das genutzt, um die Selbstorganisation der Arbeiter voranzubringen, indem Streikaufrufe selbstständig umgesetzt wurden.
Die Aufklärung über das erste Tarifangebot der Post wurde ebenfalls zum Diskussionspunkt. In einigen ZSP blieb sie trotz existierender Vertrauensleutestruktur aus, selbst bundesweite ver.di-Flyer kamen nicht an.
Und dennoch: Trotz des ideologischen Drucks von Seiten der Post wurde das erste Angebot in der Urabstimmung mit klarer Mehrheit abgelehnt. Da konnte die Kapitalseite mit Entlassungen drohen, mit Ausgliederung von Bezirken oder gleich des ganzen Briefgeschäfts – die Kollegen haben ein klares gewerkschaftliches Bewusstsein gezeigt.
In der Telefonkonferenz der ver.di-Vertrauensleute zeigte sich die gewerkschaftliche Disziplin vieler Kollegen vor allem dadurch, dass zum Thema Laufzeit kaum Fragen kamen. Vor allem die gewerkschaftlich organisierten und aktiven Kollegen wenden die Kategorie des Kräfteverhältnisses instinktiv an und wissen, dass „Verhandlungen keine Diktate“ sind, wie es ein Mitglied der Verhandlungskommission ausdrückte. Dennoch blieben die anwesenden Vertrauensleute dabei, inhaltlich klare Kriterien zu fordern, an denen sich die Tarifkommission orientieren solle. Die Ablehnung dieser inhaltlichen Kriterien hat viele Kollegen erzürnt und verunsichert. Die Übernahme der Argumente der Kapitalseite als Begründung für die Annahmeempfehlung des zweiten Tarifangebots erleben viele Kollegen als krasse Unehrlichkeit. Das hat zu Wut und Entrüstung geführt, Austritte aus der Gewerkschaft und Übertritte zur gelben Beamtenbund-Gewerkschaft DPV-Kom wurden angekündigt. So sehr man die Enttäuschung verstehen kann: Die Aufgabe bleibt, die DGB-Gewerkschaften als Einheitsgewerkschaften zu stärken. Resignation und Rückzug in den Individualismus trägt nicht zur Stärkung der Arbeiterbewegung bei.
Druckpunkte verschenkt
Die Warnstreiks liefen trotz angezogener Handbremse gut, die hohe Beteiligung und die gute Stimmung zeugten von der Kampf- und Lernbereitschaft der Postler. Das Momentum der ersten Urabstimmung nicht zu nutzen, sondern sich an den Verhandlungstisch zu begeben, hat aus der Lohnbewegung viel Tempo herausgenommen. Darin kann man ein abgekartetes Spiel zwischen Sozialpartnern sehen oder auch eine gute Planung der Post. Viele Kollegen können sich inzwischen beides vorstellen, Spekulationen bringen hier nichts. In jedem Fall war es eine bewusste Entscheidung von ver.di, während der erneuten Verhandlung nicht zu streiken. Damit wurden Druckpunkte nicht genutzt. Das zu tun und hinterher über mangelnde Durchsetzungsfähigkeit zu klagen, wie es die Führung der Verhandlungskommission getan hat, zeugt von Unehrlichkeit in den Diskussionen mit den Vertrauensleuten.
Mit der erneuten Urabstimmung hat sich die Post Zeit erkauft: Das wichtige Ostergeschäft läuft und wird nach der zweiten Urabstimmung – die bis Ende März angesetzt ist – im Wesentlichen abgearbeitet sein. Jeder Postler kennt die Zeiten des hohen Drucks und der hohen Sendungsmengen. Dies im Tarifkampf nicht zu berücksichtigen ist eine weitere, mindestens halb bewusste Entscheidung, die die Durchsetzungsfähigkeit weiter schmälert.