Zum 150. Todestag des John Stuart Mill

Ein vergessener Held des Liberalismus

Holger Wendt

John Stuart Mill wird nicht mehr viel gelesen, er gilt als Denker der zweiten oder dritten Reihe. Philosophen und Ökonomen mögen seinen Namen kennen, aber nur wenige von ihnen sind mit seinen Werken vertraut. Die meisten Menschen dürften nie von ihm gehört haben. Das war nicht immer so. Als Mill am 8. Mai 1873 starb, verlor der britische Liberalismus einen seiner bedeutendsten Vertreter.

Biografisches

Geboren wurde Mill am 20. Mai 1806 in London. Bereits sein Vater war in den intellektuellen Zirkeln der liberalen Bourgeoisie wohlbekannt. James Mill, selbst Ökonom, Philosoph und politischer Schriftsteller, galt als „Radikaler“ und war befreundet mit Denkern wie dem Philosophen Jeremy Bentham und dem Ökonomen David Ricardo. Seinen ältesten Sohn, der nie eine Schule besuchte, unterrichtete er persönlich. Schon in jungen Jahren lernte Mill Griechisch, Latein, Französisch und Deutsch, setzte sich bereits als Achtjähriger mit den platonischen Dialogen auseinander und hatte den Auftrag, am Nachmittag selbst als Lehrer für seine jüngeren Geschwister zu fungieren. Die im väterlichen Umfeld verbreiteten Ideen prägten ihn tief und machten ihn frühzeitig zu einem Sprachrohr der „philosophical radicals“, einer konsequent bürgerlich-demokratischen Strömung seines Landes.

Mills formale Ausbildung beschränkte sich auf einige Kurse, die er im Alter von 14 Jahren im Zuge eines längeren Auslandsaufenthalts an der Faculté des Sciences in Montpellier belegte. In Frankreich traf er auf Ideen von Vertretern des vormarxschen Sozialismus wie Henri de Saint-Simon, Louis Blanc und Charles Fourier. Ideen, die ihn – neben den Arbeiten seines Landsmanns Robert Owen – zeitlebens begleiteten.

Wenn auch nach allen Berichten ein Wunderkind – er selbst schrieb seine intellektuelle Leistungsfähigkeit bescheiden seiner Erziehung zu –, waren doch Kindheit und Jugend keineswegs idyllisch. Die ausgeprägte intellektuelle Kälte seines Vaters trug dazu bei, Mill im Alter von 20 Jahren in eine lebensbedrohliche depressive Krise zu stürzen. Als er aus ihr herauskam, hatte sich seine Sichtweise in weltanschaulichen Fragen verschoben. Der nüchterne Rationalismus seines Vaters verschwand nicht, wurde jedoch stellenweise überlagert durch Gedanken, die gänzlich anderen geistigen Strömungen zuzurechnen waren. Er beschäftigte sich intensiv mit romantischen Autoren wie Samuel Coleridge und William Wordsworth, wurde zum Freund des reaktionären Schriftstellers Thomas Carlyle und rezipierte gründlich das rechtsliberal-kolonialistische Werk Alexis de Tocquevilles.

Beruflich auf Vermittlung seines Vaters als ranghoher Funktionär der Ostindischen Gesellschaft tätig und somit finanziell abgesichert, verfasste Mill Schriften zu einer Vielzahl von Themen – etwa das philosophische Werk „System of Logic“ oder die über viele Jahrzehnte als Klassiker gefeierten „Grundsätze der politischen Ökonomie“

Vordenker der Frauenbefreiung

Zu den prägenden Begebenheiten in Mills Leben zählte die langjährige Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau – nicht nur in persönlicher, sondern auch in intellektueller Hinsicht. Harriet Turner, geborene Hardy, war zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung bereits verheiratet. Ihr damaliger Mann tolerierte das Verhältnis mit erstaunlicher Gelassenheit, allerdings unter der Bedingung, dass der Anschein des Fortbestands der Ehe gewahrt bliebe. So sah sich zwar das Paar regelmäßig und unternahm ausgedehnte Reisen, Harriet blieb jedoch bis zum Tode ihres Gatten dessen Ehefrau und war Mutter seiner drei Kinder. Sie scheint, nach Mills Zeugnis, eine überaus bemerkenswerte Frau gewesen zu sein. Er billigte ihr erheblichen Anteil an der Entwicklung seiner Ideen und an der Abfassung zahlreicher Schriften zu. Eines seiner Hauptwerke, „Über die Freiheit“, beginnt mit einer regelrechten Eloge auf seine zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits verstorbene Partnerin.

Die völlige Gleichberechtigung zwischen Eheleuten stellte Mill niemals infrage, auch öffentlich trat er konsequent für die Befreiung der Frau ein. 1866 brachte er als Mitglied des Unterhauses einen Gesetzentwurf für ein vollständiges – allerdings sozial beschränktes – Frauenwahlrecht ein; gleichgestellt wählen durfte die weibliche Hälfte der britischen Bevölkerung allerdings erstmals im Jahr 1928. Mit „Die Unterwerfung der Frau“, geschrieben unter Mitwirkung von Harriets Tochter Helen, publizierte Mill einen Klassiker feministisch-liberaler Literatur.

Ein Werk als Baukasten

Inhaltlich überraschen die Arbeiten Mills durch ihre Widersprüchlichkeit. Humanistisch erzogen, trat er zeitlebens für fortschrittliche Ideale ein, verteidigte aber zugleich Gedanken, die sich aus antiaufklärerischen Quellen speisten. Sein Werk lässt sich keiner philosophischen oder ökonomischen Strömung gänzlich zuordnen, immer wieder trifft man auch auf das Gegenteil der getroffenen Aussagen. So pries Mill das Werk Benthams und bezeichnete sich wiederholt als Vertreter des Utilitarismus. Zentraler Gedanke von Benthams Lehre war, dass die Menschen stets nach dem höchsten Nutzen strebten – dem „größten Glück der größten Zahl“. Von Mill wurde sie jedoch derart „weiterentwickelt“, dass die Verfolgung höherer – durch gesellschaftliche Umstände geprägte, an sich aber freudlose – Ideale eine höhere Wertigkeit besitzen könne als das Streben nach individuellem Glück. Wenn historisch bestimmte gesellschaftliche Werte allerdings die höchste Richtschnur darstellen, was bleibt dann übrig von Benthams Glücksberechnung?

Ein anderes Beispiel: Seit Mill im Alter von 13 Jahren einen von den Arbeiten Ricardos geprägten Kurs der politischen Ökonomie absolviert hatte, verteidigte er die Ideen der ökonomischen Klassik, ging punktuell sogar über sie hinaus. In seinen Werken finden sich Sätze, die man bei heutigen Neoklassikern vergeblich sucht:

„Wenn die Institution des Privateigentums notwendig zur Folge hätte, wie wir heute sehen, dass der Arbeitsertrag beinahe im umgekehrten Verhältnis zur Arbeit zugeteilt wird – der größte Teil an diejenigen, die überhaupt niemals gearbeitet haben, der zweitgrößte an diejenigen, deren Arbeit fast nur symbolisch ist, und so in absteigendem Maßstab, wobei die Vergütung abnimmt, je härter und unangenehmer die Arbeit wird, bis hinab zur ermüdendsten und anstrengendsten körperlichen Arbeit, mit der man nicht einmal sicher sein kann, das Lebensnotwendige zu verdienen; wenn dieser Zustand oder der Kommunismus die Alternative wären, so würden alle Schwierigkeiten des Kommunismus (…) nur wie Staub auf der Waage wiegen.“

Indessen endete Mills Verteidigung der Errungenschaften Ricardos immer wieder bei der Akzeptanz vulgärökonomischer Kernthesen. So erfolgte sein Versuch, den Austausch zwischen Arbeit und Kapital zu erklären, einerseits unter Betonung der Gültigkeit der Arbeitswertlehre, andererseits erkannte er die Gleichheit von bezahlter und geleisteter Arbeit an. An die Stelle einer Erklärung des Mehrwerts trat damit die primitive Unterstellung eines seitens der Kapitalisten vollzogenen Preisaufschlags. Von Saint-Simon übernahm Mill die Idee des historischen Fortschritts, vergaß sie aber bei der Analyse der Produktionsverhältnisse. Es entstand das Bild einer auf ewig von den Naturgesetzen bestimmten Produktionsweise, die jedoch durch historisch fortschrittlichere Verteilungsverhältnisse zu modifizieren wäre.

Sozialismus – oder auch nicht

Mills Akzeptanz des Sozialismus funktionierte nach ähnlichem Muster. Dabei griff er nicht auf Karl Marx zurück, dessen Werk er – wiewohl beide über längere Zeit in London wohnten – kaum zu kennen schien. Die Diskussion historischer Prozesse oder objektiver ökonomischer Entwicklungen blieb außen vor, an ihre Stelle traten umfangreiche Zitate frühsozialistischer Texte von Utopisten wie Blanc oder Fourier. Ihnen gegenüber nahm Mill die Rolle eines wohlmeinenden, das Für und Wider abwägenden Richters an:

„Es sollte das Ziel der Untersuchung sein, festzustellen, welcherlei Verfügungen in Bezug auf das Eigentum ein vorurteilsfreier, zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden völlig unparteiisch in der Mitte stehender Gesetzgeber treffen würde, dieselben nur mit solchen Gründen zu verteidigen und zu rechtfertigen, welche für einen derartigen Gesetzgeber wirklich bestimmend wären, und nicht mit solchen, die den Eindruck machen, dass sie zugunsten des Bestehenden zusammengesucht sind.“

Die Attitüde, sich als vorurteilsloser Beobachter eines interessanten sozialen Experiments zu inszenieren, ist im akademischen Antikommunismus bis heute en vogue. Von diesem Standpunkt aus taxierte Mill die Kritik der Armut gegenüber der Frage nach der Motivation persönlicher Höchstleistungen oder die Gültigkeit kollektivistischer Gerechtigkeitsideale gegenüber den Vorzügen individueller Freiheit. Die Schlüsse, zu denen er gelangte, machten ihn zum Ahnherren des Sozialreformismus: Privateigentum an Produktionsmitteln sei vorteilhaft, gerechtere Verteilungsverhältnisse allerdings wünschenswert. Immerhin: Die weitere Prüfung sozialistischer Experimente blieb vorbehalten.

Das „Sowohl-als-auch“ zum Prinzip erhoben

Mill war Eklektiker – an Texten klassischer griechischer Philosophie geschult, betrachtete er die Berücksichtigung der Ansichten seiner politischen Gegner als höchste Tugend. Diese an sich lobenswerte Haltung führte ihn jedoch nicht – im Sinne einer antiken oder gar modernen Dialektik – zu einer stetigen Höherentwicklung der eigenen Positionen, sondern – gut britisch – zum pragmatischen Kompromiss. Das „Sowohl-als-auch“ ist, mit Ausnahme seiner Haltung zur Geschlechterfrage, ein durchgängiges Motiv seiner Arbeiten.

Wären Mills inhaltliche Widersprüche bloße Folge eines Mangels an intellektueller Stringenz, sie ließen sich als persönliche Fehler des Autors abschreiben. Sie waren indes mehr. Mills Erziehung erfolgte im Sinne der großen Ideale des revolutionären Bürgertums. Er war konsequent genug, Angriffe auf die aufgeklärte Vernunft zurückzuweisen. Dennoch blieb er ein Kind seiner Klasse in einer Zeit, als diese Klasse zum Zentrum der weltweiten Reaktion aufgestiegen war. Mill vertrat humanistische Ideale, blieb aber ranghoher Funktionär der bluttriefendsten kolonialistischen Organisation des britischen Empire. Er suchte die Ausbeutung des Menschen zu überwinden und unterstützte zeitgleich die gewaltsam vollzogene Ausplünderung des größten bis dahin existierenden Weltreichs. Den Weg eines Friedrich Engels, den Weg des Klassenverrats, ging er nicht – eine solche Größe hatten nur wenige. Von allen anderen Wegen indes war der des John Stuart Mill wohl noch der sympathischste. Gedenken wir seiner mit Nachsicht.

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"Ein vergessener Held des Liberalismus", UZ vom 12. Mai 2023



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