Im Jahr 2022 bewarb sich der Geoinformatiker Benjamin Ruß auf eine Stelle an der Technischen Universität München (TUM). Die Bewerbung war zunächst erfolgreich, doch der Verfassungsschutz griff ein und warf ihm unter anderem seine Mitgliedschaft in der Roten Hilfe und eine Reihe von politischen Äußerungen vor. Noch während des laufenden Verfahrens wurde die Stelle anderweitig besetzt. Ruß zog vor Gericht – und unterlag. UZ sprach mit ihm über sein Berufsverbot und die Auswirkungen des Verfahrens auf Wissenschaft und Gewerkschaften.
UZ: Drei Jahre ist es nun her, dass du dich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München beworben hast. Die Professorin wollte dich einstellen und eigentlich schien alles klar. Dann kam die Personalabteilung dazwischen und verhinderte deine Einstellung. Zuvor hatte sie Post vom Verfassungsschutz erhalten. Entscheidet in Bayern am Ende der Geheimdienst darüber, wie universitäre Stellen besetzt werden?
Benjamin Ruß: Offiziell nicht, aber in der Realität schaut es stark danach aus. Die Personalabteilung hat keine eigenen Recherchen angestellt, sondern eins zu eins das übernommen, was der Verfassungsschutz geschrieben hat. Als Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst wäre es eigentlich ihre Pflicht gewesen, das zu überprüfen. Das ist aber nicht passiert, was man auch daran sieht, dass der Verfassungsschutz falsche Informationen geliefert hatte, die einfach übernommen wurden. Beispielsweise hieß es, dass ich einen Polizeibeamten angegriffen hätte. Dabei war es genau andersherum. Ich hatte eine Morddrohung bekommen, wurde während einer Demonstration beleidigt und verletzt. An diesem Punkt hätte die Personalabteilung wissen müssen, dass etwas nicht in Ordnung ist und dass der Verfassungsschutz möglicherweise eigene Interessen verfolgt. Immerhin ist es die Aufgabe der Personalabteilung, für wissenschaftliche Mitarbeiter mit guten Qualifikationen zu sorgen. Dem Verfassungsschutz lag hingegen viel daran, mich als randalierenden, gewalttätigen Linksradikalen darzustellen.
UZ: Gerade an einer Universität ist ein solches Vorgehen besonders problematisch. Wo bleibt denn bei so einem Einstellungsverfahren die Wissenschaftsfreiheit?
Benjamin Ruß: Das ist natürlich ein ganz großes Thema. Wissenschaftsfreiheit als bürgerliches Recht wäre noch einmal gesondert zu diskutieren. Aber nehmen wir mal an, wir verteidigen die Wissenschaftsfreiheit als Recht in diesem Staat, dann ist das natürlich eine dramatische Entwicklung. Wenn wir uns das Urteil des Arbeitsgerichts München gegen mich anschauen, dann müssen wir konstatieren: Auch Albert Einstein dürfte an der TU heute nicht lehren oder forschen, weil er die Schrift „Why Socialism?“ verfasst hat.
In dem Urteil wird davon gesprochen, dass der Staat ein Recht darauf hat, von den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht kritisiert zu werden. In Bayern ist das auch über den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) geregelt. Da heißt es in Paragraf 3, dass sich alle Angestellten „durch ihr gesamtes Verhalten“ jederzeit positiv auf die „Freiheitliche Demokratische Grundordnung“ beziehen müssen. Und das hat das Gericht in meinem Fall stark hervorgehoben. Im Urteil heißt es: „Es ist für den beklagten Staat auch für zwei Jahre nicht hinnehmbar, dass in der beschriebenen Weise aktiv gegen ihn gehandelt und zur Bekämpfung des ‚Regimes‘, als dessen Vertreter der beklagte Freistaat anzusehen ist, mit rechtswidrigen Mitteln aufgerufen wird.“
Übersetzt heißt das: Ein Wissenschaftler hat in allererster Linie staatstreu zu sein, damit er Wissenschaftler sein darf. Was soll dabei rauskommen, wenn nicht Staatspropaganda in unterschiedlichen Schattierungen? Und das finde ich schon ein bisschen lustig, weil das genau der Vorwurf ist, der der Wissenschaft in der Sowjetunion und in den anderen Staaten des real existierenden Sozialismus gerne gemacht wurde.
Außerdem sollte es doch möglich sein, den Staat selbst wissenschaftlich zu überprüfen. Also nachzufragen, was Staaten sind, wozu Staaten da sind, welche Formen Staaten angenommen haben und ob Staaten notwendig sind. Das alles sind legitime wissenschaftliche Fragen, die durch die Festlegung der Staatstreue von Anfang an unterbunden werden. Und das ist für mich ein grober Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit.
UZ: Der Verfassungsschutz hatte dir unter anderem vorgeworfen, dass du dich vor einigen Jahren im SDS, dem Studierendenverband der Linkspartei, engagiert hast. Dienen solche Vorwürfe auch als Disziplinierungsmittel für heutige Studierende, die später vielleicht mal einen Job in der Wissenschaft haben wollen?
Benjamin Ruß: Ja, definitiv. Das merkt man in Bayern auch. An den Universitäten ist fast nichts los. Es gibt kaum politische Bildung, die über den vorgegebenen Lehrplan hinausgeht, keine größeren politischen Bewegungen. Die Devise aus den 70er Jahren, den linken Sumpf an den Universitäten trockenzulegen, gilt nach wie vor. Das Ganze wurde durch den Bologna-Prozess verschärft, also durch die Umstellung von Diplomstudiengängen auf Bachelor-Master-Studiengänge und die Einführung der unternehmerischen Uni. Das hat die politischen Spielräume der Studierenden, aber auch der Angestellten eingeengt und zur Befristungspraxis geführt. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad an den Universitäten ist zudem zum Schreien niedrig.
Ich habe mich wahnsinnig gefreut, dass die Kolleginnen und Kollegen von ver.di und aus der ver.di-Betriebsgruppe mich bis zum Schluss unterstützt haben. Aber das ist auch ein relativ kleiner Haufen, wenn man das mit der Größe der Universität vergleicht. Eine „Exzellenzuniversität“ wie die TU München will sich von Arbeiterorganisationen möglichst freihalten. Ihr Auftrag besteht im Grunde darin, Konzerne wie Siemens, BMW, Rheinmetall oder ThyssenKrupp mit Forschungserkenntnissen zu beliefern. Dafür werden Diskurse gestoppt, bevor sie von der Uni auf die Betriebe überschwappen.
UZ: Diese Schnittstelle zwischen politischem und gewerkschaftlichem Engagement spielte auch vor dem Arbeitsgericht eine wichtige Rolle. Im Urteil wird dir vorgeworfen, rechtswidrige Mittel zu unterstützen. Damit sind auch explizit Streiks gemeint …
Benjamin Ruß: Ja, der Verfassungsschutz, die TU München und auch das Gericht berufen sich dabei auf Texte, die ich früher für „Klasse gegen Klasse“ geschrieben habe. In einem der Artikel ging es mehr oder weniger um Lokalpolitik und in einem anderen um Streiks an den Krankenhäusern. Ich habe geschrieben, dass es aus der Perspektive der Kolleginnen und Kollegen keinen Sinn macht, dass wir ständig nur Warnstreiks organisieren und in den folgenden Verhandlungen die Hälfte unserer Forderungen nicht durchsetzen. Deshalb brauche es konsequente Streiks zur Durchsetzung unserer Interessen und Forderungen.
Das Gericht hat daraus abgeleitet: Wer Erzwingungsstreiks will, würde auch Behörden und Unternehmen blockieren, was den Tatbestand der Nötigung erfülle und somit ein rechtswidriges Mittel darstelle. Das ist ein heftiger Angriff auf das Streikrecht. Es passt aber in den Diskurs, den wir derzeit haben. Im Zuge der Militarisierung und Aufrüstung wollen die Parteien von den Grünen über FDP und CDU bis zur AfD das Streikrecht beschränken, um die imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals durchzusetzen. Mit solchen Urteilssprüchen hält die „Zeitenwende“ also auch Einzug in die Justiz. Da sollten wir aus gewerkschaftlicher Sicht hellhörig werden. Wenn wir uns nicht auf breiter Front dagegen wehren, wachen wir eines Tages ohne Streikrecht auf oder müssen miterleben, wie unsere Kolleginnen und Kollegen verurteilt werden, weil sie gegen den Krieg sind.
UZ: Dir wird auch vorgeworfen, die Demokratisierung von Betrieben gefordert zu haben …
Benjamin Ruß: In einem Artikel habe ich geschrieben, dass die Demokratisierung der Betriebe vorangetrieben werden muss. Der Verfassungsschutz hat das so interpretiert, dass ich die Enteignung der Konzerne und die Übergabe der Kontrolle an die Arbeiterinnen und Arbeiter fordere. Das ist natürlich auch eine Form der Demokratisierung und je mehr Demokratie, desto besser, finde ich. Im Text stand das so aber nicht. Ich habe auch geschrieben, dass ich die Gründung einer Partei für sinnvoll erachten würde, die solche Positionen aufgreift, unterstützt und in die Öffentlichkeit trägt. Dazu hat das Gericht geschrieben: „Soweit der Kläger darauf verweist, dass er in dem Artikel bezüglich der Demokratisierung von Betrieben und der Organisation von politischen Streiks auf die Bildung einer Partei verwiesen habe, ändert das nichts, denn eine Partei, die solche Ziele mit solchen Mitteln verfolgte, würde ihrerseits zu rechtswidrigem Handeln aufrufen.“
Das Gericht sagt also schon vor der Gründung, dass eine solche Partei verboten gehöre, während wir lauter faschistische Organisationen haben, die nicht verboten werden. Zudem wird hier neben dem politischen Streik auch die Forderung nach der Demokratisierung von Betrieben als rechtswidrig dargestellt. Darunter kann man natürlich die Kontrolle durch die Arbeiterinnen und Arbeiter verstehen, aber auch die Bildung von Betriebsräten. Ich halte dieses undifferenzierte Aburteilen für gefährlich. Auch das hängt mit der Militarisierung zusammen und mit dem Umbruch in der deutschen Industrie. Da sind gewerkschaftliche Betriebsräte nicht gern gesehen. Mit solchen Ausführungen leistet das Gericht den Konzernen Vorschub für ihre Union-Busting-Methoden und für weitere Angriffe auf Arbeiterrechte.
UZ: Justiz und Politik können sich gegenseitig Steilvorlagen liefern. Auf Anraten deiner Rechtsanwältin hast du dich entschieden, keine Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Auch, um einen Präzedenzfall vor dem Landesarbeitsgericht zu vermeiden?
Benjamin Ruß: Ja, das war ein Argument der Anwälte, die mich beraten haben. Das ist eine juristische Einschätzung. Ich bin kein Jurist. Auf der politischen Ebene wäre es sinnvoll gewesen, das weiter auszufechten. Aber dafür hätte es eine ganz andere Mobilisierung geben müssen. Und ich hätte auf jeden Fall die Unterstützung der Gewerkschaften gebraucht. Aber da vor dem Bayerischen Landesarbeitsgericht keine andere Entscheidung zu erwarten war, konnten meine Anwälte der Gewerkschaft nicht empfehlen, diesen Prozess weiterhin zu unterstützen und Geld für eine sicher geglaubte Niederlage auszugeben. In so einer Situation hat man als einzelner Kollege nicht viele Möglichkeiten. Ich hätte natürlich anfangen können, Geld zu sammeln, neue Anwälte zu suchen, die Kampagne neu zu beleben und so weiter. Aber das hätte mich persönlich festgenagelt. Vor dem Hintergrund habe ich dann gesagt: Okay, auf diesem Hügel sterbe ich nicht. Leider gibt es ja auch schon weitere Fälle und das vorliegende Urteil reicht erst mal aus, um damit politisch zu agieren und den Leuten zu sagen: Passt auf! Wir müssen uns dagegen wehren, weil sich das ausweiten wird.
UZ: Das ganze Verfahren hat sich über zweieinhalb Jahre gezogen. Was hast du in der Zwischenzeit gemacht und wie geht es jetzt für dich weiter?
Benjamin Ruß: Aufgrund der Ablehnung an der TU war ich zwei Jahre lang im Arbeits-Exil in Luxemburg. Inzwischen bin ich wieder hier und habe ALG I beantragt, was ja auch mein Recht ist. Aber ich muss mich jetzt bewerben und bin persönlich an den Raum München gebunden. Mit diesem Urteil habe ich schwarz auf weiß, dass mich sowohl der Verfassungsschutz als auch ein großer öffentlicher Arbeitgeber und das Arbeitsgericht als verfassungsfeindlich einstufen oder zumindest Zweifel an meiner Verfassungstreue haben. Im Öffentlichen Dienst in Bayern habe ich daher quasi Berufsverbot. Das macht es schwierig, weil der Öffentliche Dienst für mich als Geoinformatiker eine Vielzahl an Möglichkeiten bieten würde, ob beim Landesforstamt, in der Archäologie oder bei den Planungsämtern in den Gemeinden – überall dort, wo mit geographischen Daten gearbeitet wird. Ich bin also auf den privaten Sektor beschränkt. Aber da hat so eine Vorgeschichte natürlich auch Auswirkungen. Den Beruf, den ich erlernt habe und in den ich auch investiert habe, kann ich in Bayern im Grunde nicht mehr ausüben.