Dem Kommunisten und Historiker Eberhard Czichon zum 90. Geburtstag

Ein Unbotmäßiger

20140209 Czichon Ziegenhals 84 a - Ein Unbotmäßiger - Antifaschismus, BRD, Geschichte der Arbeiterbewegung - Theorie & Geschichte
Eberhard Czichon (Foto: Gabriele Senft)

Eberhard Czichon, der am 8. August seinen 90. Geburtstag begeht, hat sich in die deutsche Geschichtswissenschaft mit unvergleichlichen, in einem guten Sinn spektakulären Arbeiten eingeschrieben. 1967 stieß er in einem Archiv in Berlin (DDR) auf Handakten aus den Jahren bis 1945 von Hermann Josef Abs (1901–1994). Abs war von 1957 bis 1967 Vorstandssprecher der Deutschen Bank und galt als der einflussreichste Bankier der Bundesrepublik. Für die Öffentlichkeit war er Chef eines soliden Bankhauses, das aufgrund seiner katholischen Prägung mit den Nazis nichts zu tun gehabt hatte. Czichon widerlegte das und charakterisierte Abs als Helfer und Profiteur der Nazis. Er veröffentlichte 1967 in den „Blättern für internationale und deutsche Politik“ und dann als Broschüre in Köln die Arbeit „Wer verhalf Hitler zur Macht?“. Sie hatte große Resonanz in der Studentenbewegung und unter Gewerkschaftern. Czichon stieß damit maßgeblich in der BRD eine Debatte über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus, von Ökonomie und Politik an, an der er und andere DDR-Historiker sich aktiv beteiligten. Erwähnt sei hier ein Heft der Zeitschrift „Das Argument“ aus dem Jahr 1968, in dem Beiträge von ihm, Timothy Mason, Dietrich Eichholtz und Kurt Gossweiler veröffentlicht wurden. Bis 1989 erlebte seine Arbeit sechs Auflagen. Die als Lexikonautoren bei Wikipedia schreibenden Manipulatoren verunglimpfen seine Darstellung bis heute als „Agententheorie“.

Gegen sein Buch „Der Bankier und die Macht. Hermann Josef Abs in der deutschen Politik“ (1970) klagte Abs und gewann den erregenden Prozess, weil die Westabteilung des Zentralkomitees der SED seinen Verteidiger Friedrich Karl Kaul instruiert hatte, einen Vergleich zu schließen. 1972 wurde das Buch wegen angeblich falscher Tatsachenbehauptungen vom Landgericht Stuttgart verboten. Beweise, die Czichon in Form der Kriegsverbrecherberichte der US-Militärverwaltung, der OMGUS-Reports, in der Tasche dabei hatte, blieben dort. Erst 1995 erschien zum 125. Jahrestag der Deutschen Bank, die nach dem Tod von Abs 1994 „entdeckte“, der habe womöglich Auschwitz finanziert und sei ein Arisierer gewesen, eine überarbeitete Version bei Papyrossa in Köln. Derselbe Verlag publizierte 1999 auch den mit Heinz Marohn geschriebenen Band „Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf“. 2010 veröffentlichte er zusammen mit Marohn im Wiljo-Heinen-Verlag den Doppelband „Thälmann. Ein Report“. 2017 schließlich legte er eine zweibändige Autobiographie unter dem Titel „Verlorene Heimat. Erinnerungen und Überlegungen eines Historikers“ vor, die leider nur in einer sehr kleinen Auflage im Selbstverlag erschien.

Vorgezeichnet war dieser Lebensweg nicht. Möglich wurde er durch die DDR, durch eine feste marxistische Haltung, durch Gelassenheit gegenüber Karrierismus und den Rückhalt durch seine Frau Ruth, die er 1953 kennengelernt hatte. Sie starb 2017. Czichon hatte kurz nach Kriegsende seinen Vater, einen Kommunisten, verloren und lebte zunächst mit seiner Mutter in den Westsektoren Berlins. Er war Mitglied der FDJ und erlebte in Tegel Anfang 1948 seine ersten beiden „Zwangsstellungen“ durch die Westberliner Polizei. Er erlernte im sowjetischen Sektor bei der Deutschen Düngerzentrale (DDZ) den Beruf eines Großhandelskaufmanns, stand aber am Gründungstag der DDR, dem 7. Oktober, in Tegel wegen einer verbotenen Flugblattverteilung vorm französischen Militärgericht. Der Strafverteidiger für ihn und seine mitangeklagten Genossen war Friedrich Karl Kaul, der ihn mehr als 20 Jahre später auch in Stuttgart vertrat. Für Czichon erwirkte er Freispruch – er hatte seine Flugblätter schon verteilt, als er verhaftet wurde. Seine Genossen hatten das nicht geschafft, sie erhielten jeweils einen Monat Haft.

Eberhard trat 1948 in die SED ein, machte Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und studierte Geschichte an der Humboldt-Universität. Danach arbeitete er als Lektor, am Institut für Heimatmuseen beim Ministerium für Kultur und schließlich an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ein spezieller Forschungsauftrag führte ihn in Westberliner und westdeutsche Archive. 1966 lernte er in Köln Paul Neuhöffer kennen, den Geschäftsführer des Pahl-Rugenstein-Verlages. Er wurde bis zu seinem Tod 1998 ein enger Freund und Berater.

Anfang Januar 1967 rief Czichon Neuhöffer an und berichtete ihm von einer Entdeckung, die er im Archivkeller des Deutschen Wirtschaftsinstituts in Berlin (DDR) gemacht hatte. Zufällig (und unbefugt) hatte er dort Handakten von Abs aus dessen Zeit in Berlin bis 1945 gefunden. Neuhöffer verabredete mit ihm einen Artikel für die „Blätter“ über Abs und die Deutsche Bank in Nazideutschland. So nahmen die Dinge ihren Lauf: Czichon arbeitete zehn Wochen nach Feierabend an dem Material und stellte Abs sogar schriftlich einige Fragen zu dessen Lebenslauf. Der beauftragte eine Detektei, nach diesem Czichon zu forschen.
Auf den ersten Artikel reagierte Abs nicht. Als der zweite Artikel erschienen war, gab es Ärger für den Verleger Neuhöffer mit einem der Herausgeber der „Blätter“, mit Viktor Renner aus Tübingen, einem ehemaligen Justizminister Baden-Württembergs. Czichon schreibt in seinen Erinnerungen: „Abs beschwerte sich am 12. September 1967 bei Renner über beide Artikel, die ‚von Lügen strotzen’ und ‚übelste Ostpropaganda’ wären. Renner distanzierte sich sofort von den ‚Blättern’ und schied aus dem Kreis der Herausgeber aus. Neuhöffer bot dem Bankier am 9. Oktober eine Gegendarstellung an, die sehr interessant gewesen wäre. In seiner Antwort vom 18. November 1967 bat sich Abs zunächst Zeit bis Anfang 1968 dafür aus, um dann am 6. März 1968 über den Rechtsanwalt Wolfgang Büsselberg (Rechtsabteilung der Deutschen Bank) argumentieren zu lassen, er könne keine Erwiderung schreiben, ohne die Akten zu kennen, die Czichon benutzt habe. Das war ein Ausweichen, denn Abs wusste genau, an welchen Akten er bis 1945 gearbeitet hatte, die er bei seiner Flucht aus Berlin zurücklassen musste. Doch den dritten Teil des Aufsatzes druckte Neuhöffer nicht mehr ab. Er erschien nur noch in einer linken Studentenzeitung. Aber offensichtlich war Abs damit erst einmal zufrieden.“

1969 erschienen in der DDR und 1970 bei Pahl-Rugenstein die Bücher Czichons, daraufhin zeigte Abs ihn wegen angeblich falscher Tatsachenbehauptungen an.

Der verlorene Prozess in Stuttgart hatte Nachwirkungen: 1974 wurde Czichons Dissertation über Abs im Faschismus in der DDR abgelehnt, 1981 wurde er wegen „Unbotmäßigkeit“ aus der SED ausgeschlossen. Er blieb, lässt sich sagen, unbeeindruckt und Kommunist: 1990 wurde er Mitglied der Kommunistischen Plattform der PDS, seit 1995 ist er in der DKP, 1998 war er Mitbegründer des „RotFuchs“.

In den 90er Jahren entstand ein weiterer „Klassiker“. Der Band „Das Geschenk“, den Czichon zusammen mit Heinz Marohn über die Machenschaften Michail Gorbatschows und seiner Umgebung beim Ende der DDR verfasste. Czichon schreibt dazu in seinen Erinnerungen, es sei nicht darum gegangen, „über den ‚Zusammenbruch’ der DDR und deren angebliche Ursachen zu schreiben“, sondern um den „Verrat der Gorbatschow-Riege an einem Verbündeten unter dem Logo der Perestroika- und Glasnost-Politik“. Die beiden Autoren erschlossen dazu ein unglaublich umfangreiches Quellenmaterial (was einige kritische Genossen wie Kurt Gossweiler vermuten ließ, sie hätten die Arbeitsgruppe eines Geheimdienstes zur Verfügung gehabt), zogen die Veröffentlichungen der US-Administration von George Bush senior und der Kohl-Regierung zu Rate, sprachen mit Zeitzeugen. Wer wissen will, warum die DDR fast widerstandslos angeschlossen werden konnte, sollte „Das Geschenk“ lesen.

Zwei Bände herauszubringen, die wegen ihrer Unbestechlichkeit bei Obrigkeiten nicht beliebt sind, sollte reichen. Aber Czichon gelang noch ein dritter „Streich“: Zusammen mit Heinz Marohn veröffentlichte er nach einem Jahrzehnt Arbeit in Archiven 2010 „Thälmann. Ein Report“. Der Verleger Wiljo Heinen schrieb zum 85. Geburtstag Czichons in der „jungen Welt“ dazu: „Gewendete Historiker tobten, weil er sich nicht ihrer heutigen Geschichtssicht anpasste – doch Fehler konnten sie den beiden nicht nachweisen.“

Herzlichen Glückwunsch, Eberhard!


Zitate aus: Verlorene Heimat. Erinnerungen und Überlegungen eines Historikers von Eberhard Czichon

Die Gründung der DDR war für mich der Weg in ein neues Deutschland. Die Bundesrepublik, die bereits ausgerufen worden war, beurteilte ich als Wurmfortsatz des Alten und des überwunden geglaubten deutschen Imperialismus. Ich irrte mich. Die Bundesrepublik wurde die Fassade seiner Wiederauferstehung und zum Feind der DDR. So kompliziert auch die Entwicklung der DDR unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch werden sollte, sie wurde meine politische Zukunft. Ich weiß heute nicht mehr, wieweit unsere Freunde von der DDZ (Deutsche Düngerzentrale, Czichons Ausbildungsbetrieb, UZ) mitdemonstriert haben, aber unsere politische Arbeit wurde auf die Stärkung der DDR orientiert. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat war zwar nicht auf den revolutionären Barrikaden errichtet worden, doch zugleich auf denen des russischen Oktobers und des Sieges der Roten Armee von 1945. Und der verband uns umso fester mit der Sowjetunion. Das war dann auch das Thema unseres ersten Heimabends Anfang November 1949.

In der DDR wollten wir eigentlich keine parlamentarische Demokratie à la Weimar oder Bonn haben. Wer danach trachtete, hatte die DDR nicht verstanden. Gewiss, davon gab es nicht wenige. Viele gingen ja auch weiter in Westberlin arbeiten, bekamen ihren Lohn in Westmark und konnten in Ostberlin, dem Demokratischen Sektor, gut damit leben. Nicht, dass wir sie beneideten, doch ich hatte meinen Lohn oder mein Stipendium nie in Westmark umgetauscht bekommen. Das erschwerte das Leben meiner Mutter und ich musste immer bis zur S-Bahn nach Tegel laufen. Und in Ostberlin gab es Spannungen in der Bevölkerung gegen die, die in Westberlin arbeiteten, aber auch wegen der zeitweiligen Mangelerscheinungen. U- und S-Bahn, die noch immer zwischen West- und Ost-Berlin verkehrten, waren immer Einkaufszüge in beide Richtungen. Ich konnte das immer beobachten, wenn ich nach Tegel fuhr. Auch meine Mutter kaufte vor allem Wurst, Butter und Eier oder die Weihnachtsgans in Ostberlin ein, wie sie das seit Jahren tat. Nur, früher war sie dazu aufgefordert worden, „Westberliner! Kauft in der HO“, jetzt war es formal verboten. Diese Jahre waren nicht „bleiern“, sondern spannungsgeladen.

Ich kannte Hans Modrow damals persönlich nicht, und wusste auch nicht, dass ihn der amerikanische Außenminister James A, Baker nach seinem Treffen in Potsdam als reformwilligen Gorbatschowisten einschätzte, der in der Lage wäre, die Stabilität der DDR noch so lange zu halten, bis man sich mit Gorbatschow über ihren Preis, bzw. bis zur Übergabe mit der UdSSR-Führung geeinigt habe. Doch (wie ich später nachweisen konnte und was der Kanzleramtsminister Horst Teltschik bestätigte) Gorbatschow verschenkte die DDR und mit ihr den Sieg der UdSSR über den deutschen Faschismus, für den über 27 Millionen Sowjetbürger gestorben waren.

Nun begann ein Nachdenken über die Grenzschließung und wir kamen zu dem Schluss, dass es bei der anhaltend gespannten Lage und die wurde ja zunehmend als „kalter Krieg“ bezeichnet, die normalste Lösung darstellte.

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"Ein Unbotmäßiger", UZ vom 7. August 2020



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