„Ein Stück deutlicher“

Lars Mörking im Gespräch mit Jutta Markowski, Anja Wurtz und Wilhelm Koppelmann

Jutta Markowski, Delegierte aus dem Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen)

UZ: Mit welchen Erwartungen bist Du zum ver.di-Bundeskongress gefahren?

Jutta Markowski: Mein Hauptthema war die Zurückweisung des Krankenhausstrukturgesetzes. Dazu hat es auf dem Kongress eine Debatte und einen ordentlichen Initiativantrag gegeben, der klarstellt, dass es nur in sehr geringem Maße zusätzliches Personal geben soll, gleichzeitig aber Krankenhausschließungen befördert werden. Das war ein klares Signal.

Das Zweite war, dass wir in der Pflege sehr genau darauf schauen, dass der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten erfolgreich abgeschlossen wird. Es geht hierbei ja um die generelle Aufwertung von Berufen, die in der Daseinsvorsorge angesiedelt sind. Die ErzieherInnen haben mit der Kampagne zur Aufwertung begonnen und wir sollten die nächste Berufsgruppe sein.

Deshalb war es mit wichtig, dass es ein klares Signal vom Bundeskongress gibt, dass dieser Streik möglichst erfolgreich beendet wird; ein Signal, das sagt: Euer Streik ist unser Streik.

Da kommt es jetzt darauf an, dass die Beschlüsse und Verlautbarungen – auch von Frank Bsirske – jetzt eine Umsetzung in der Gesamtorganisation finden und es gelingt, fachübergreifend zu arbeiten.

UZ: Frank Bsirske hat ja von der Unterstützung der gesamten Organisation für die Kolleginnen und Kollegen der Sozial- und Erziehungsdienste gesprochen. Ist die denn wirklich vorhanden und was hat der Bundeskongress dazu ergeben?

Jutta Markowski: Bei der Antragsdebatte sind die Kolleginnen und Kollegen aus dem Sozial- und Erziehungsberufen noch einmal sehr gut in die Diskussion gegangen. Das ist ja wirklich die große Frage bei ver.di, wie wir die fachübergreifende Gewerkschaftsarbeit hinbekommen. Aber die Erkenntnis wächst und das Thema ist auf dem Bundeskongress schon ein Stück deutlicher geworden.

UZ: Habt ihr denn Ansätze und Ideen, wie eine fachübergreifende Gewerkschaftsarbeit konkret aussehen kann? Ihr habt ja in eurem Fachbereich auch Auseinandersetzungen wie bei der Berliner Uniklinik Charité, die über den einzelnen Betrieb und Fachbereich hinaus wirken.

Jutta Markowski: Es ist so, dass auf die Charité sehr geschaut wird und wie ich das mitbekommen habe, gab es viele Solidaritätsbekundungen. Die führen da einen mutigen Kampf und es muss gelingen, die gesetzliche Personalbemessung auch als tarifpolitischen Kampf weiterzuführen. Da sind wir ganz gut aufgestellt.

Es gab bei uns im Fachbereich auch den Versuch, eine Konferenz zu machen, wo wir Ideen sammeln, wie wir den Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten unterstützen können. Der erste Anlauf ist mangels Masse gescheitert, da wirkten wohl noch die Sommerferien nach. Aber es wird neue Anläufe geben.

Und dann werden wir sehen, wie wir den Kampf um Aufwertung unterstützen, wie z. B. durch aktive Mittagspausen o. ä. Diese Diskussion gibt es in den Fachbereichsvorständen.

UZ: Was nimmst Du mit vom Bundeskongress?

Jutta Markowski: Bemerkenswert fand ich die Diskussion um den Antrag zu Wirtschaftsdemokratie, in der deutlich wurde, dass die Formulierung im Leitantrag illusorisch und brav ist. Beschlossen wurde dann nur, dass die Diskussion um gesellschaftliche Alternativen dringend weitergeführt werden muss, auch weil Lohnkämpfe und gesellschaftliche Auseinandersetzungen schärfer werden. Gerade im Zusammenhang mit dem Poststreik und den Fiesheiten von Seiten der Arbeitgeber ist deutlicher geworden, dass man sich mehr mit gesellschaftlichen Alternativen auseinandersetzen muss. Beschlossen wurde, den Leitantragstext dazu gemeinsam mit dem viel besseren Antrag der ver.di-Jugend zu gesellschaftlichen Alternativen gleichberechtigt als Arbeitsmaterial anzuhängen. Das fand ich schon bemerkenswert.

Was schade ist, dass der Bundeskongress nichts zu Kriegstreiberei und Militarisierung unserer Gesellschaft gesagt hat. Das ist auch nicht im Grundsatzreferat von Bsirske vorgekommen, wo er nur allgemein von Fluchtursachen und Waffenexport gesprochen hat. Dass Krieg eine Hauptfluchtursache ist und dass Deutschland dafür Verantwortung trägt – für Kriegstreiberei und Militarisierung –, wurde nicht erwähnt.

Und die ganzen Anträge zu Rüstungskonversion und Bundeswehr sind aus Zeitgründen an den Gewerkschaftsrat verwiesen worden. Das halte ich für ein Riesenversäumnis.

Anja Wurtz, Delegierte aus dem Fachbereich 1 (Finanzdienstleistungen)

UZ: Mit welchen Erwartungen bist Du zum ver.di-Bundeskongress gefahren?

Anja Wurtz: Das war mein erster Kongress, ich habe also nicht so genau gewusst, was auf mich zukommt. Vor allem fand ich es erst einmal spannend, überhaupt hinfahren zu dürfen. Vor allem aber habe ich das Thema 30-Stunden-Woche mit auf den Kongress genommen. Wir wollten eine konkrete Zahl in den Antrag zur Arbeitszeit bekommen. Das haben wir leider nicht durchbekommen.

UZ: Welche Bedeutung hat das Thema Arbeitszeitverkürzung in Deinem Bereich?

Anja Wurtz: Das Thema habe ich mitgenommen aus Frauenkonferenzen auf zwei Ebenen, wo eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden mit Begründung von Sachverständigen beschlossen wurde. Da ging es vor allem um die Frage der Gleichberechtigung. Viele, die in Teilzeit arbeiten, möchten ja mehr arbeiten und viele, die in Vollzeit stecken, wollen gerne weniger arbeiten. Die durchschnittliche Arbeitszeit liegt in Deutschland bereits bei 30 Stunden die Woche – es wird aber nicht voll bezahlt.

UZ: Warum wurde das Ziel 30-Stunden-Woche nicht verabschiedet?

Anja Wurtz: Es gab mehr als zehn verschiedene Anträge, wo in den meisten 30 Stunden drin stand, bei einem 32 und bei einem 35 Stunden. Die Antragskommission hat mit den unterschiedlichen Zahlen argumentiert und vorgetragen, dass ver.di kein so konkretes Ziel in den Antrag zur Arbeitszeit schreiben sollte. Einige Delegierte des Bundeskongresses waren der Ansicht, dass aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen – die ja bei 35 oder bei über 40 Stunden die Woche als Vollzeit liegen können – die Durchsetzbarkeit eines konkreten Ziels nicht möglich sei.

UZ: ver.di hat in diesem Jahr Arbeitskämpfe geführt, darunter der Streik bei der Post, bei den Sozial- und Erziehungsdiensten, bei amazon und am Uniklinikum Charité in Berlin. Gab es dazu Einschätzungen auf dem Bundeskongress?

Anja Wurtz: Die Kolleginnen und Kollegen von amazon waren mit einer Streikdelegation von verschiedenen Standorten auf dem Bundeskongress. Die haben sich teilweise in der Nacht auf den Weg gemacht, um auf dem Bundeskongress sprechen zu können.

Und der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten war natürlich auch Thema, da wurde angekündigt, dass es zügig weiter geht und wieder gestreikt wird, sollten bei den jetzigen Verhandlungen keine neuen Ergebnisse zustande kommen. Da soll es ja eine neue Streiktaktik geben, die aber nicht öffentlich diskutiert wurde.

Außerdem war der Arbeitskampf bei der US-Tochter der Telekom, T-Mobile, Thema. Da gibt es Unterstützung von Seiten der Kolleginnen und Kollegen der Telekom in Deutschland.

UZ: Was nimmst Du mit vom Bundeskongress?

Anja Wurtz: Ich nehme vor allem mit, dass es wichtig ist, sich mit den anderen Branchen auseinanderzusetzen. Auf dem Bundeskongress wurde u. a. gefordert, Arbeitskämpfe zu synchronisieren. Und wenn es eine zeitliche Parallele gibt, sollten wir auch zu gemeinsamen Aktionen aufrufen.

UZ: Wie kannst Du Dir das konkret vorstellen?

Anja Wurtz: Gerade in der Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen der öffentlichen Daseinsvorsorge kann ich mir das sehr gut vorstellen. Wir haben ja schon in diesem Jahr bei uns – bei den Versicherungen – einen gemeinsamen Streiktag mit den Kolleginnen und Kollegen der Sozial- und Erziehungsdienste gemacht. Wir haben unsere Kolleginnen und Kollegen aufgerufen, dass sie, wenn sie ihre Kinder aufgrund des Streiks nicht in den Kindergarten bringen können, dass sie sie mit zur Streikdemo bringen sollen. Das haben dann auch einige gemacht.

Wilhelm Koppelmann, Delegierter Fachbereich 7 (Gemeinden)

UZ: Mit welchen Themen und mit welchen Erwartungen bist Du zum ver.di-Bundeskongress gefahren?

Wilhelm Koppelmann: Als Mitglied im Fachbereich Gemeinden von ver.di sind das naturgemäß die Themen rund um die öffentliche Daseinsvorsorge und ihre Finanzierung – gerade in Anbetracht der neuen großen Aufgabe der Integration der Flüchtlinge. Aber auch auf die Bewertung der verschiedenen – auch sehr großen – Tarifauseinandersetzungen durch die Kolleginnen und Kollegen Delegierte war ich gespannt.

UZ: Bist Du mit der Diskussion bzw. mit dem Verlauf zufrieden?

Wilhelm Koppelmann: Ich bin immer wieder überrascht, welchen Raum – auch unter linken Gewerkschaftern – immer wieder Satzungsfragen einnehmen. Da hat zum Ende doch die Zeit für inhaltliche Diskussionen, z. B. zur Frage der Arbeitszeitverkürzung, ein wenig gefehlt.

Angenehm überrascht war ich, mit welch großer Empathie sich der Bundeskongress zu den Flüchtlingen positioniert hat. Ein Highlight in der Diskussion war auch die Diskussion zum Antrag des Gewerkschaftsrates zur Wirtschaftsdemokratie. Übrig geblieben ist von ihm im Grunde nur die Einleitung, die nichts anderes aussagt, als dass ver.di sich in einen Diskussionsprozess begeben wird, ob der Kapitalismus tatsächlich das Ende der Geschichte ist.

UZ: Wie wird sich ver.di Deiner Ansicht nach verändern müssen, um in den kommenden Auseinandersetzungen zu bestehen?

Wilhelm Koppelmann: Ich bejahe die Organisationsreform Perspektive 2015, also die Trennung von individueller und kollektiver Interessenvertretung. Dadurch kann meiner Auffassung nach einerseits die Qualität der rechtlichen Beratung der Mitglieder erhöht und andererseits die betriebliche Schwerpunktsetzung in den Fachbereichen besser organisiert werden.

Und in den Betrieben wird auch die Frage entschieden, ob wir die anstehenden Auseinandersetzungen bestehen. Die Mitgliederentwicklung ist das A und O für unsere Durchsetzungsfähigkeit.

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"„Ein Stück deutlicher“", UZ vom 2. Oktober 2015



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