Wir können alles messen und in Listen fassen – auch die Fieberkurve des Staatszerfalls. Der Zerfall Libyens begann im „Arabischen Frühling“.
Die Gegner Gaddafis galten im Frühjahr 2011 als säkulare und friedliche Vertreter der Zivilgesellschaft – obwohl man doch in den Fernsehnachrichten sah und hörte, wie sie mit dem Ruf „Allahu al Akbar“ ihre Kanonen abfeuerten. Die libysche Armee drängte die Bewaffneten der regionalen und religiösen Opposition zurück. Und damit wurde der Ruf, die „Internationalen Gemeinschaft“ müsse eingreifen, immer lauter.
Behauptungen über Bombenangriffe gegen Zivilisten und Massenvergewaltigungen wurden ohne Beweise verbreitet. Virtuelle Gräuel begründeten einen sehr realen Luftkrieg gegen Libyen. Die „Flugverbotszone zum Schutz von Zivilisten“ wurde ab dem 19. März 2011 eingerichtet. Sie war in Wirklichkeit die Luftwaffe der Moslembrüder. Ein halbes Jahr und 7 600 Luftangriffe benötigte die NATO, um die Aufständischen zum Sieg zu bomben. Die Folge waren instabile Regierungen, die in ihrem Einfluss regional begrenzt und immer wieder islamistisch geprägt waren. Und eine Vielzahl von Milizen, die um die Macht in Regionen, Städten und im Land kämpften. Gruppen, die sich als Teil des IS bekennen, gewannen an Macht. Waffen aus Libyen drohen weitere Länder der Region zu destabilisieren.
Der Zerfall, der 2011 begann, ist noch lange nicht zu Ende. Und so befinden sich heute italienische, französische, britische und US-Soldaten in Libyen im Einsatz. Das Land wird erneut bombardiert. Vordergründig gelten die aktuellen Luftangriffe der Unterstützung der „international anerkannten Regierung“ unter Ministerpräsident Sarradsch. Doch vielleicht gibt es schon längst eine Arbeitsteilung: die offizielle politische Anerkennung der Regierung der Nationalen Einheit – und die inoffizielle militärische Zusammenarbeit mit einem ihrer Gegner.
Am 20. Juli starben drei französische Soldaten bei einem Hubschrauberabsturz. Die französischen Soldaten operierten womöglich ohne Wissen und gegen den Protest der anerkannten Regierung. Die Zeitung „Le Monde“ spricht in diesem Zusammenhang von einer diskreten Zusammenarbeit der französischen Armee mit Khalifa Haftar. Dessen Milizen kämpfen gegen Islamisten jeglicher Couleur – und die international anerkannte Regierung. Khalifa Haftar war einmal hoher Offizier in der libyschen Armee, wechselte aber später die Seiten und lebte seit den neunziger Jahren in den USA, wo er Kontakte zu organisierten Gegnern von Gaddafi hielt. 2011 kehrte er nach Libyen zurück. Er gilt als Mann der CIA.
Die international anerkannte Regierung wird bereits als schwach und unfähig eingeschätzt. Wenn der IS in Libyen einmal geschlagen ist, werden die Machtstrukturen in Libyen wohl neu sortiert werden. Mittlerweile zerfällt das Land weiter. Bis August 2015 zählte die UN 435 000 Binnenflüchtlinge, hunderttausende Flüchtlinge aus anderen Ländern. Rund eine Million Menschen haben das Land Richtung Tunesien verlassen. Und mehr als 2,4 Mio. Menschen in Libyen brauchen humanitäre Unterstützung. Einwohnerzahl: 6 Millionen.
Wir können alles messen und in Zahlen fassen und es gibt eine Liste der gefährdeten Staaten. Am Ende dieser Liste rangieren stabile Staaten wie Norwegen und Finnland. 2010 war Libyen ein stabiler Staat auf einem Platz im guten Mittelfeld der Liste. Heute ist es abgestürzt auf einen Platz weit vorne.
Das Öl, natürlich. Der Kampf der USA um Ressourcen und ihre Politik, die Moslembrüder zu unterstützen, zerstörten Libyen – und ein Ende ist nicht in Sicht.