Vorabdruck aus den „Marxistischen Blättern“ zu 100 Jahren Sowjetunion

Ein Staat, der lernen wollte

Im Editorial der neuen Ausgabe der „Marxistischen Blätter“ zitiert Lothar Geisler Bertolt Brecht, der sich 1935 zu den Schwierigkeiten unter anderen derjenigen äußerte, die über die junge Sowjetunion berichteten: „Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind groß (…) ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben (…) Und alle diese fünf Schwierigkeiten müssen wir zu ein- und derselben Zeit lösen (…)“ Das gilt auch heute noch – sowohl für die aktuelle Situation in Russland als auch für die Geschichte des ersten sozialistischen Staates. Den Schwerpunkt des Heftes hat die Redaktion in drei Blöcke aufgeteilt, da sie Denkanstöße zu einem komplexen Themenbereich liefern möchte.

5020 Titel 2023 - Ein Staat, der lernen wollte - Geschichte der Arbeiterbewegung, Sowjetunion - Hintergrund

Im ersten Block schreiben Autoren aus unterschiedlichen Ländern über das, „was ihnen zum 100. Geburtstag der UdSSR wichtig erscheint“.

In Block zwei geht es um den gesellschaftlichen Fortschritt. „Der heutige Zustand der Welt verlangt von uns allen mehr Nachdenken über Alternativen zum Bestehenden, das heißt über zukünftigen Sozialismus und Wege dorthin“, wie Geisler schreibt.

„Beim dritten Schwerpunkt-Block haben wir uns entschieden, nicht über Russland, seine Innenverhältnisse, seine Außenpolitik und seine Kriegsziele zu schreiben, sondern Russen selbst über ‚Russland heute‘ zu Wort kommen zu lassen. (…) Sie geben Einblick in innerrussische Diskussionen, lassen aber selbst für Russland-Kenner viele Fragen offen und erregen hier und da Widerspruch – auch ganz heftigen.“

Mit freundlicher Genehmigung drucken wir hier den Beitrag von Dietmar Dath, der sich im ersten Schwerpunkt-Block mit der Rolle der Wissenschaft im jungen Sowjetstaat befasst. Zu beziehen sind die „Marxistischen Blätter“ unter neue-impulse-verlag.de

Vom ersten Tag an stand das Wagnis UdSSR vor einer erbarmungslosen Alternative: Entweder massenhafter Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten in beispielloser Breite, Tiefe und Geschwindigkeit, oder der neue Staat bricht zusammen (drei Varianten drohten: 1. Wirtschaftsimplosion samt millionenfachem Hungertod, 2. Sieg ausländischer Invasionstruppen, 3. erfolgreicher Aufstand entmachteter Unterdrücker und Ausbeuter im Inland). Der heroische Kampf gegen den Analphabetismus in den Zwanzigern und Dreißigern war für die Sowjetunion einer ums Überleben. Denn man lernt fast alles, was man wissen muss, von der primitivsten Körperhygiene übers Kochen bis zu politischen Begriffen und anspruchsvollster Mathematik, mittels sprachlicher Erläuterung, und die ist schriftlich nun mal haltbarer und weniger mehrdeutig als mündlich oder mit Händen und Füßen.

So wurde denn gelernt, rund siebzig Jahre lang. Am Ende, in den Achtzigern, kurz vor der Zerstörung dieses großen Menschheitsprojekts, formten zwanzig sehr weitgehend (etwa gemessen an den Möglichkeiten der Teilstaaten der USA) selbstverwaltete Republiken und achtzehn spezielle Gebiete und Bezirke mit kniffligem Sonderstatus ein gemeinsames Staatsgebilde, inklusive deutsche, polnische, koreanische, kurdische und zahlreiche andere Minderheiten.

Auch nach dreißig Jahren ist diese Leistung nicht vergessen, wenngleich die Erinnerung in Anekdoten zu versanden droht – mir persönlich wurde zum Beispiel im April 2022 der Fall eines jungen Wissenschaftlers ukrainischer Nationalität bekannt, der zur ungarischstämmigen Minderheit in der Ukraine gehört, dort aber seit Jahren aufgrund der miserablen wirtschaftlichen und politischen Lage keine Arbeit findet. Daher musste er sich eine Stellung in Budapest verschaffen – und berichtet jetzt von ekelhaften Schikanen der gegenwärtigen ukrainischen Regierung sowohl gegen ihn selbst wie gegen seine in der Ukraine verbliebenen Angehörigen. Niemand in dieser Familie hegte je die geringste Sympathie für Sozialismus oder Kommunismus; aber sie alle erklären heute deutlich, die Minderheitenpolitik der Sowjetunion sei nicht zuletzt im Hinblick auf den Zugang zu Lehre und Forschung mit dem Zweck der Verbesserung ökonomischer Chancen im Vergleich mit den in allen ehemaligen Sowjetrepubliken seither eingetretenen Zuständen geradezu ein Himmelsgeschenk gewesen.

Allerdings wurzelt diese inzwischen so schmerzlich vermisste Politik in nichts anderem als eben im Sozialismus und wissenschaftlichen Kommunismus.

Denn schon Marx und Engels stellten die Aufgabe einer umfassenden polytechnischen Ausbildung der gesamten Bevölkerung unabhängig von der Herkunft des Individuums ins Zentrum ihrer bildungspolitischen Programmatik, aus systementscheidenden Gründen: Wo das Ziel eine Gesellschaft selbstbestimmter Menschen ist, müssen sowohl Minderheiten wie Mehrheiten die Instrumente der Mündigkeit erwerben können und sich über nackte Naturbedürfnisse hinaus die für Kultur und Menschenwürde unabdingbaren Ressourcen erschließen.

Von der Säuglingsbetreuung bis zur Hochschule war dieses Prinzip in der Sowjetunion fürs staatliche Handeln bindend. Als hätte man in den Zwanzigern und Dreißigern des letzten Jahrhunderts bereits die Ära der Computer und der Robotik vorausgesehen, in der Dank intelligenter Koordination eigentlich keine Körperkraft mehr brachliegen und kein Verstand mehr ohne wirksame reale Hebel bleiben müsste, war das sowjetische Bildungswesen bewusst „so aufgebaut, dass es die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit, die so charakteristisch für die bürgerlichen Länder ist, nicht nur nicht vergrößert, sondern im Gegenteil auf die Aufhebung dieser Trennung gerichtet ist“, wie es in der „Großen Sowjet-Enzyklopädie“ hieß. Das Lernen sollte ein Kontinuum sein von der Fabrikintelligenz, die Metallstaub in den Nüstern hat, bis zu den Höhenflügen der Mathematik, die reinen Geist zu atmen glaubt.

Einer der bedeutendsten Mathematiker der letzten zweihundert Jahre, Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow, betont in einem Aufriss der Geschichte seines Fachgebiets für die eben schon zitierte Sowjet-Enzyklopädie die Besonderheit der Mathematik in der UdSSR: Sie finde sich „in einer wesentlich breiteren und planmäßigen Organisation der wissenschaftlichen Forschungen und der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ und zeige sich so „in ihrer Einheitlichkeit“, im „betonten Interesse an denjenigen Problemen, welche die verschiedenen Zweige der mathematischen Forschung untereinander verbinden“.

Nur auf diese Weise kommt man zu Übersicht statt zersplittertem Detailwissen.

In den historischen Klassengesellschaften verhindert die Ausbildungsordnung diese Übersicht freilich; sie wird gestört und zerredet, denn Kenntnisse und Fertigkeiten sollen nur zu Diensten der herrschenden Klasse erworben und gepflegt werden, immer nah an der Fachidiotie. Deswegen musste leider auch alles Wissen, das die sowjetische Forschung aus der Vergangenheit geerbt hatte oder das sie aus dem Ausland erreichte, auf klassengesellschaftsbedingte Schäden und Verunreinigungen, auf ideologische Schlacken geprüft und gefiltert werden – eine wahre Herkulesaufgabe.

Darwins geniale Abstammungslehre zum Beispiel war im Westen schnell zum „Sozialdarwinismus“ verfälscht worden, zu einer widerlichen Hetze rund um den „Kampf ums Dasein“ im Interesse der Rechtfertigung rassistischer, kolonialer und neokolonialer Verbrechen, und dieser Wahn wirkte in populären Darstellungen der Darwinschen Lehre verwirrend auf sie zurück, wurde mit ihr vermengt und verwechselt. Später ging’s der Kybernetik ähnlich, also der Lehre von Selbststeuerung, Regelkreisen und Fließgleichgewichtssystemen, die man im Imperialismus zur offenen oder verdeckten Verklärung „naturwüchsiger“ (Marx) Wirtschaftsweisen verwendete, lauter Gefasel über die Selbstregulation des „freien Marktes“ (also: der Mehrwerträuberei des Kapitals), wobei das korrekte Bild der Theorie und der ideologische Mumpitz wild durcheinandergingen.

Ein leuchtendes Beispiel für die Wachsamkeit der Forschungs- und Bildungseinrichtungen der Sowjetunion gegenüber derlei Verdrehung und Verdunklung des Sachgehalts der Wissenschaft mittels aufgedonnerter und konfuser Philosopheme hat uns der bereits erwähnte Mathematiker Kolmogorow hinterlassen. Nachdem ihm in den Dreißigern der Nachweis gelungen war, dass sich die Wahrscheinlichkeitstheorie, deren Herkunft aus dem Glücksspielwesen sie im Elfenbeinturm der abstrakten Forschung lange in ein übles Licht gerückt hatte, auf solide axiomatische Grundlagen stellen und mit der leistungsfähigsten Gegenwartsmathematik verknüpfen ließ, wäre er beinahe in einen metaphysischen Streit zwischen zweierlei Auffassungen davon geraten, was „Wahrscheinlichkeit“ überhaupt sei.

Die erste dieser beiden, meist „Frequentismus“ genannt, betrachtet die Ursache-Wirkung-Beziehungen, welche die Häufigkeit eines Ereignisses regulieren, also ihre (vielleicht verborgenen, womöglich nie erkennbaren) Parameter, als objektiv und fix und sieht demgegenüber die jeweiligen Daten der Beobachtung („Wie oft wird bei 100 Würfelwürfen eine 1 gewürfelt?“) als Variablen. Die andere Auffassung, die auf Thomas Bayes zurückgeht, hält es genau umgekehrt: Daten sind das Gegebene, während die Parameter, die sie regulieren, bestenfalls veränderliche, menschliche Erwartungen darstellen, die man entsprechend den jeweils neuen Daten optimieren muss. Wer hat nun recht?

Endgültig entschieden ist das bis heute nicht; aber Kolmogorow wusste wie der Marx der „Thesen über Feuerbach“, an welches Kriterium er sich zu halten hatte: die Praxis.

Denn die subjektivistische Auslegung der berühmten, von Bayes gefundenen Rechenregel für bedingte Wahrscheinlichkeiten ist zwar für den dialektischen Materialismus unannehmbar, aber Kolmogorow, der selbstverständlich kein Subjektivist war, besaß genug geistigen Elan, sich davon nicht irremachen zu lassen: Er begriff, dass jene Bayes-Regel ein nützliches, ziemlich präzises Instrument ist, und riet entgegen bloßer frequentistischer Dogmatik im entscheidenden Moment, nämlich als die Wehrmacht die Sowjetunion überfiel und die Wahrscheinlichkeitsfachleute gefordert waren, der Roten Armee bei der Berechnung von Geschossbahnen und Einschlagsgefahren zu helfen, unverkrampft zum Gebrauch der Bayes-Regel.

Wer weiß? Vielleicht funktioniert sie ja aus einem noch unbekannten Grund, der eines Tages gefunden wird und mit Subjektivismus überhaupt nichts zu schaffen hat. Aber diesen Grund werden wir nur finden, wenn wir den praktischen Wert der Regel nicht leugnen.

So dachte Kolmogorow – und damit ähnelte er Lenin, der aus der Niederlage von 1905 so eifrig und scheuklappenfrei zu lernen verstand wie aus den Siegen von 1917. Gelernt hat dieser Mann (stets mit Blick auf Praxis und dem neuen Staat als Leitbild dienstbar) so die Mühe der Beendigung des Krieges wie die Schwierigkeiten des Friedens, die unaufschiebbare Vorläufigkeit von Landreformlösungen (erst unausweichlich, dann doch wieder der Berichtigung bedürftig), die Verwaltung der Not im Kriegskommunismus, die riskanten Balanceakte der Neuen Ökonomischen Politik und vielerlei mehr.

Alles aber, was er da lernte, lehrte er sogleich andere – nicht als Professor, sondern als Koordinator.

Denn Lenin wusste: Nicht nur die Unwissenden sind auf gute Lehren angewiesen, sondern umgekehrt auch die Wissenden auf alle Menschen, die lernen wollen und können, wo die Errichtung einer menschenwürdigen Welt der Mündigkeit gewollt ist.

Denn kein Individuum, was und wie viel es auch immer wissen mag, kann eine solche Welt alleine bauen.

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"Ein Staat, der lernen wollte", UZ vom 23. Dezember 2022



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