Die vielschichtige Geschichte Deutschlands, des Zionismus und der Wechselbeziehungen zwischen beiden Geschichten“, so beschreiben die Autoren selbst das Thema ihres Buches. Moshe Zuckermann (zeitweise in Frankfurt aufgewachsen) und Moshe Zimmermann sind beide vor der Staatsgründung Israels geboren und haben die Entwicklung des Staates erlebt. Beide sind bekannt für ihre unverblümte Kritik an der Besatzungsmacht Israel. Und beide äußern ihre Empathie für die realen Opfer der Schoah und für die realen Opfer der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik – ohne je das eine mit dem anderen zu vergleichen.
Die Autoren gehen in ihrem Dialog vielen Fragen nach, die für ein tieferes Verständnis des Konflikts um Palästina von Bedeutung sind. Welchen Einfluss hatte der deutsche Nationalismus im 19. Jahrhundert auf die Idee des Zionismus? Ist der Antisemitismus (und letztlich gar die Schoah) Voraussetzung und womöglich ein „Besitzwert“ für Zionismus und israelische Staatsräson? Was bedeutete das für die Menschen, die nach Palästina fliehen mussten – „Wir sind nicht aus Zionismus gekommen, sondern aus Berlin“ apostrophieren die Autoren deren Haltung – und die womöglich nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehrten?
„Denk ich an Deutschland …“ ist der Titel des Buches – und schon damit signalisieren die Autoren die besondere Beziehung, die Triade aus deutscher Großmachtpolitik schon seit dem Kaiserreich (und selbst die Nazis blieben Teil dieser Triade), dem Zionismus und Palästina. Die Bonner Republik wahrte beste Beziehungen zu Israel, zahlte Entschädigungen zur Beruhigung des Gewissens und zum Aufbau des Staates Israel. Und zugleich unterhielt man beste Beziehungen zu arabischen Staaten und hatte Verständnis für die Interessen der Palästinenser.
Und wie ist der Zustand dieser Triade heute? In Israel werden Antisemitismus und sogar die Erinnerung an die Schoah immer mehr ihres eigentlichen Inhalts beraubt und instrumentalisiert. Eine ähnliche Haltung beschreiben die Autoren für Deutschland, wo statt Empathie Allgemeinplätze geboten werden. Palästina soll zunehmend zur Sprach- und Bedeutungslosigkeit verdammt werden. Palästinenser als der dritte Teil der Triade kommen heute – wenn überhaupt – nur noch als Träger von Antisemitismus und potenzielle Terroristen vor.
Es sind Mechanismen in Israel und in der Folge auch in Deutschland, die einen Schutzpanzer errichten gegen jegliche Kritik an Israel und die sogar die Wahrnehmung der Verbrechen der Besatzungsmacht verhindern sollen. Zuckermann schreibt: „Ich glaube nicht, dass es einen Juden in Israel gibt, der nicht weiß, dass Israel ein Staat ist, (…) der de facto eine barbarische Realität generiert.“ Doch dieses Wissen bleibt im Hintergrund, wird verdrängt von der Rolle als „Opfer der Terroristen“ oder der behaupteten Bedrohung der realen Atommacht Israel durch eine potenzielle Atommacht Iran. Und Deutschland, so Zimmermann, positioniert sich „im Namen der Abwehr des Antisemitismus als herausragender Kämpfer gegen Kritik an Israel“.
Viel Raum widmen die Autoren dem Begriff der „Opfer“. Die realen Opfer der Schoah werden in Israel überprägt von einer Inflation des Begriffs, von einer – wie die Autoren es nennen – Selbstviktimisierung. Dies ist Teil der oben erwähnten Mechanismen zur Panzerung gegen Kritik und zur Verhinderung der Wahrnehmung der realen Verbrechen der Besatzungsmacht Israel.
Dies und der „in Israel grassierende Linken- und Araberhass“ (Zuckermann) bietet rechten und rechtsradikalen Politikern und Parteien die Möglichkeit, anzudocken und die Erinnerung an die Schoah zu kapern – sehr zu ihrer Freude und ohne ein Wort der Kritik vonseiten der vielen Antisemitismusbeauftragten in Deutschland.
Für die Zukunft ihres Landes sehen die Autoren keine positive Entwicklungsmöglichkeit. Ein Andauern des Zustands „Weder Krieg noch Frieden“ und der barbarischen Besatzungspolitik scheint fast noch die beste Variante.
Zimmermann sieht die Möglichkeit eines positiven Zionismus, die allerdings nie verwirklicht wurde. Die Jugendorganisation Hashomer Hatzair („Der junge Wächter“), die für einen binationalen Staat eintrat, gehört zu seinen Zeugen. Für Zuckermann kann „kein anständiger Mensch mehr Zionist sein, wenn Zionismus das ist, was in Israel verwirklicht wurde“. Und er spricht vom Alltagsrassismus und einer zunehmenden Faschisierung Israels.
Und dann gibt es einen bitteren Nachtrag. „Hätten sie nur geschwiegen“, mag man denken. Aber nein, sie haben nicht geschwiegen, sondern sich – ohne Not – zum Krieg in der Ukraine geäußert. „Den Sieg der liberalen Demokratie“ sah Zimmermann mit dem Fall der Mauer gekommen, gefolgt von 30 „guten Jahren“. Die Menschen im Irak, in Afghanistan, in Libyen, Jugoslawien, Syrien und vielen anderen Ländern – auch in Palästina – mögen das anders sehen. Zuckermann immerhin diskutiert hier auch die Ausweitung der NATO immer weiter nach Osten.
Zuckermann sieht den Dialog mit Zimmermann als einer vergangenen Kultur zugehörig an, als ein Räsonieren wie das von Statler und Waldorf in der Muppet Show. Das ist zu viel der Selbstzweifel. Ihr Dialog bietet keine in Stein gemeißelte Wahrheiten. Doch es ist ein wichtiger und wirksamer Dialog – auch wenn der Zugang nicht immer einfach ist. Denn das Buch verlangt dem Leser einiges ab. Es braucht Geduld, Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer – Tugenden, die heute nicht mehr en vogue sind. Dafür bietet es ein tieferes Verständnis des Konflikts um Palästina und der Mechanismen, die in ihm wirksam sind.
Moshe Zuckermann, Moshe Zimmermann
Denk ich an Deutschland … Ein Dialog in Israel
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023, 260 Seiten, 24 Euro