„Die Stechfliege“ von Ethel Voynich

Ein Roman über Revolutionäre

Liam Mellows las diesen Roman vor seiner Hinrichtung, zusammen mit anderen Verurteilten und Genossen. Sie waren vom Irischen Freistaat im Bürgerkrieg (1922 bis 23) inhaftiert worden, weil sie sich dem Vertrag widersetzten, der Irland den Status eines selbstverwaltenden Dominions innerhalb des Britischen Empire verlieh, anstatt eine unabhängige Irische Republik zu errichten. Sein Mitgefangener Peadar O’Donnell schrieb: „Es ist eine erstaunliche Tatsache, an die sich viele der Mountjoy-Gefangenen sicher unschwer erinnern, dass ‚Die Stechfliege‘ zu jener Zeit im C-Flügel sehr gelesen wurde; es ist eine Geschichte der italienischen Revolution mit einer grässlichen Hinrichtungsszene … MacKelvey … mit dem Buch in der Hand … wiederholte: ‚Gott, ich hoffe, sie behandeln keinen unserer Jungs so.’ MacKelvey sollte sich am nächsten Morgen an ‚Die Stechfliege‘ erinnern.”

Was war das für ein Buch, das seinerzeit von den Kämpfern für eine unabhängige irische Republik und von der Arbeiterbewegung in Großbritannien so viel gelesen wurde?

Die Autorin, die in Irland geborene Ethel Lilian Boole, wurde am 11. Mai 1864 in Cork als jüngste von fünf Töchtern des renommierten Mathematikers Professor George Boole und der Psychologin und Philosophin Mary Boole geboren. Ethels Vater starb kurz nach ihrer Geburt und ihre Mutter nahm die Familie mit nach London. Ethel kehrte während ihrer Kindheit regelmäßig nach Irland zurück. Bei einem dieser Besuche in Irland las sie zum ersten Mal von Giuseppe Mazzini, dem Anführer der italienischen Risorgimento-Bewegung.

Dieser Revolutionsroman wurde 1897 veröffentlicht und erlangte in der UdSSR und in China Kultstatus, verkaufte sich millionenfach. In der UdSSR entstanden zwei Verfilmungen, eine Stummfilmversion (1928), die weitere (1955) mit der Musik von Dmitri Schostakowitsch.

Ethel Voynich war eng mit revolutionären Kreisen in London, Berlin und Russland verbunden und mit einem polnischen Revolutionär verheiratet. Aus diesen Erfahrungen und diesem Freundeskreis schöpfte Voynich den Stoff des Romans. Er spielt im Italien der 1840er Jahre, zur Zeit der Volksaufstandes gegen die österreichische Fremdherrschaft, dem Risorgimento.

Die Hauptfiguren des Romans gehören Mazzinis Untergrundpartei Junges Italien an, alle aktiv in der nationalen Befreiungsbewegung. Eine spannende Handlung verbindet die Sympathie der Leser mit den Kämpfern mit der eindeutigen Haltung der Autorin. Es ist klar, wie dieses Buch jene Leser anspricht, die sich mit Bewegungen gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung identifizieren. „Einige von ihnen gehörten Mazzinis Partei an und hätten sich nicht mit weniger als einer demokratischen Republik und einem vereinigten Italien zufrieden gegeben.“ Es ist offenkundig, warum sich die während des Bürgerkriegs in Irland Gefangenen, die ebenjenes Ziel verfolgten, mit den Figuren im Buch identifizierten.

Der Roman spiegelt die historischen Tatsachen wider und kritisiert scharf die aktive Opposition der katholischen Kirche gegen die Bewegung für ein vereintes Italien, die sich in einem Vater-Sohn-Konflikt äußert, der die Wirkung noch vertieft: ein Italiener, der widerwillig bereit ist, seinen Sohn und die Sache der Freiheit und die Zukunft Italiens um der Religion willen zu opfern. Die Autorin lässt keinen Zweifel an ihrer eigenen Haltung. Ihr erklärter Atheismus im Roman wird zweifellos dazu beigetragen haben, dass der Roman 1947 vom irischen Staat verboten wurde.

Der Geist der Revolution ist nicht allein auf die Mitglieder der Bewegung Junges Italien beschränkt. Er findet in der gesamten Bevölkerung verdeckte Unterstützung, was in vielen Szenen des Romans zum Ausdruck kommt. Gewöhnliche Menschen helfen der Bewegung, Waffen über die Grenzen zu schmuggeln, ihnen persönlich zu Hilfe zu kommen, sogar Gefängniswärter stehen hinter ihnen. Selbst das Erschießungskommando versucht in der von MacKelvey erwähnten Szene, ihren heimlichen Helden zu schützen. Mit diesem Buch entwickelt sich also Ende des 19. Jahrhunderts ein neuer Typus im englischen Roman, einer, dessen Held und Heldin Revolutionäre und Teil einer revolutionären Befreiungsbewegung sind.

In einer Zeit großer Kämpfe für das Frauenwahlrecht geschrieben, ist die zentrale Frauengestalt, Gemma Warren, von der Bewegung hoch geachtet. Sie ist nicht allein von Voynichs eigenen Erfahrungen inspiriert, sondern auch von anderen weiblichen Revolutionärinnen um die Autorin herum. Gemma ist nicht nur eine emanzipierte Frau, sie ist auch eine revolutionäre Frau, die im Zentrum der Bewegung steht. Auf diese Weise geht sie über die literarischen Heldinnen des späten 19. Jahrhunderts hinaus und nimmt die proletarischen Frauen vorweg, über die Gorki schreiben wird. Voynich bringt nicht nur die revolutionäre Gruppe als zentrale Figur in die Romanhandlung ein, sondern auch einen neuen Frauentypus als wichtigen Teil dieser Gruppe.

Angesichts Voynichs Internationalismus und Erfahrung ist es aus heutiger Sicht unverständlich, in diesem Buch rassistische Ansichten gegenüber Südamerikanern und Schwarzen zu finden. Dieser Rassismusvorwurf erstreckt sich auch auf die Darstellung nicht-weißer Frauen. Voynichs Roman hat, vermutlich aus diesem Grund, unter den heldenhaften Befreiungskämpfern weder in Kuba, anderen lateinamerikanischen Ländern noch in Afrika viel Resonanz gefunden. Überraschenderweise wird dieser Aspekt nie von Kritikern kommentiert. Wenn der Roman die Ungnade der Kritiker erweckt, dann liegt das vielmehr an seinem für seine Zeit so ungewöhnlich offenen Atheismus oder an seiner Parteinahme für eine revolutionäre Bewegung.

Ethel arbeitete während des Krieges mit den Quäkern als Sozialarbeiterin im Londoner East End und verließ Großbritannien endgültig um 1920, als sie sich ihrem Mann Wilfred in New York anschloss. Es gibt keine weiteren Informationen über aktive politische Arbeit. Wilfred starb 1930. Ethel kehrte zur Musik zurück und komponierte unter anderem „Epitaph in Balladenform”, das dem irischen Revolutionär Roger Casement gewidmet war, der am 3. August 1916 im Gefängnis von Pentonville, London, gehängt wurde.

Sowjetische Literaten entdeckten 1955, dass Ethel im Alter von 91 Jahren noch in New York lebte. Diese Nachricht erregte in der UdSSR großes Aufsehen und führte zur Zahlung von Tantiemen. Ethel lebte weiterhin ruhig mit Anne Nill zusammen, die einst Wilfreds New Yorker Buchgeschäft geleitet hatte. Ethel Voynich starb vor sechzig Jahren, am 27. Juli 1960, im Alter von 96 Jahren.

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"Ein Roman über Revolutionäre", UZ vom 31. Juli 2020



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