Zehn Jahre nach dem Sturz des früheren Präsidenten Ben Ali war Tunesien wieder Schauplatz heftiger Demonstrationen, an vier Orten war die Armee eingesetzt. Nach Angaben des Innenministeriums gab es in den ersten Tagen 635 Verhaftungen. Dies betraf Personen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Andere Quellen sprechen von bis zu 1.000 Personen, die zum Teil aus ihren Wohnungen heraus verhaftet wurden.
Lange Zeit galt Tunesien als Erfolgsmodell des Arabischen Frühlings. Es gab eine neue Verfassung, Dutzende Parteien wurden nach dem Sturz von Ben Ali gegründet, in Gesprächen zwischen Gewerkschaftsdachverband, dem Handels- und Industrieverband, einer Menschenrechtsorganisation und der Vereinigung der tunesischen Rechtsanwälte wurden die Rahmenbedingungen der weiteren Entwicklung diskutiert.
Freedom House, eine sogenannte Nicht-Regierungs-Organisation mit Sitz in Washington, deren Ziel es ist, die „liberale Demokratie“ zu verbreiten, vergab 2015 eine Bestnote für Tunesien.
Doch an vielen grundlegenden Problemen des Landes hatte sich nichts geändert. Die wirtschaftliche Situation verschlechtert sich weiter, noch immer ist ein Drittel der jungen Bevölkerung Tunesiens arbeitslos, die öffentlichen Dienstleistungen sind marode und das Land steht am Rande des Bankrotts. Wegen der Pandemie blieben die Touristen aus – ihr Fehlen verschärft die Situation weiter.
Neun Regierungschefs in zehn Jahren, Parteien, die über Nacht entstehen und Einfluss gewinnen und ebenso schnell wieder verschwinden – die politische Krise ist tief. Finanzhilfen europäischer Staaten kommen den Eliten zugute. Und der Internationale Währungsfonds, der seit Jahren Kredite an Tunesien vergibt, fordert dafür: Abbau der Subventionen für Treibstoff, keine Lohnsteigerungen, flexiblen Wechselkurs und Anhebung des Renteneintrittsalters.
Vor zehn Jahren forderten die Demonstranten „Jobs, Freiheit und Würde“. Heute steht auf Plakaten: „Arbeit ist ein Recht, keine Gefälligkeit“. Und erneut fordern Demonstranten den „Sturz des Systems“.
In vielen Städten des Landes kam es trotz Ausgangssperre wegen Corona zu Protesten. Demonstranten sperrten Straßen, um die Polizei aufzuhalten, zündeten Autoreifen und Mülltonnen an, plünderten Supermärkte, Banken und Postämter. Vor allem die armen und dicht bevölkerten Bezirke sahen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei, Nationalgarde und Armee.
Premierminister Hichem Mechichi erklärte in einer Fernsehansprache, die Wut sei legitim. Gegen Gewalt dagegen werde der Staat mit aller Kraft des Gesetzes vorgehen. Und der tunesische Präsident Kais Saied wandte sich direkt vor Ort, in M’nihla nahe Tunis, an die Demonstranten. Er warnte sie vor Islamisten, die „im Schatten“ versuchen würden, Chaos zu säen, um die Regierung zu destabilisieren.
Doch gibt es seit einigen Jahren umgekehrt die Furcht, die Islamisten der Ennada-Partei könnten sich in Polizei und Militär verankern. Die Ennada-Partei ist seit Jahren in ihrem Einfluss relativ stabil und mit 25 Prozent der Abgeordneten zurzeit größte Fraktion im tunesischen Parlament. Sie fordert mittlerweile ihre Mitglieder auf, auf die Straße zu gehen, um für den Schutz der Tunesier zu sorgen.
„Nicht nötig“, sagt selbst ein Sprecher der Nationalgarde. Heute scheinen die Sicherheitskräfte besser gerüstet und trainiert, mit großen Protesten umzugehen, als zu Zeiten von Ben Ali. 2019 billigte der US-Kongress 106 Millionen Dollar für Tunesien – für ein Programm, das sicherheitsbezogene Ausbildung und Ausrüstung betraf. Zuletzt waren die Proteste zurückgegangen.