Am 17. Februar 1947 fiel Hanoi nach 61 Tagen erbittertem Widerstand in die Hand der französischen Truppen

Ein Pyrrhussieg

Von Gerhard Feldbauer

Mit der Proklamation der Demokratischen Republik Vietnam nach der siegreichen Augustrevolution am 2. September 1945 hatte das Land das seit 1858 errichtete französische Kolonialjoch beseitigt und wieder seine nationale Unabhängigkeit errungen. Die Unabhängigkeitserklärung, die Ho Chi Minh an jenem 2. September in Hanoi auf dem Ba-Dinh-Platz vor dem ehemaligen Palast des Gouverneurs der Kolonialmacht vor einer halben Million Einwohner abgab, enthielt Worte, die fast denen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 glichen: „Alle Menschen sind gleich erschaffen. Von ihrem Schöpfer wurden sie mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter dem Recht auf Leben, auf Freiheit und auf das Streben nach Glück.“

Frankreich wollte jedoch im September 1945 das Kolonialregime mit der Besetzung von Gebieten in Südvietnam wiedererrichten. Angesichts der starken Positionen der Vietnamesischen Volksarmee (VVA) in Nordvietnam hielt sich Frankreich dort zunächst noch zurück. In Fontainebleau bei Paris schlossen Frankreich und die DRV am 6. März 1946 ein Modus-vivendi-Abkommen, das vorsah, alle offenen Fragen durch Verhandlungen zu lösen und in Südvietnam das Feuer einzustellen. Ho Chi Minh ging in der Kompromissbereitschaft so weit, bei einer Anerkennung der vollen Souveränität und territorialen Integrität der DRV einer Mitgliedschaft in der Französischen Union zuzustimmen. (Die von Frankreich im Oktober 1946 mit seinen Kolonien gebildete Union Française sollte den Kolonialgebieten den Schein einer Unabhängigkeit vermitteln und ihre nationalen Befreiungsbewegungen ausschalten.)

Vo Nguyen Giap (links), der spätere Oberbefehlshaber der Volksarmee, und vietnamesische Kämpfer der Vietminh Im Dschungel nahe Kao Bak Lang, 1944 (veröffentlicht in: Jean Chesneaux: Geschichte Vietnams. Rütten & Loening, Berlin 1963)

Vo Nguyen Giap (links), der spätere Oberbefehlshaber der Volksarmee, und vietnamesische Kämpfer der Vietminh Im Dschungel nahe Kao Bak Lang, 1944 (veröffentlicht in: Jean Chesneaux: Geschichte Vietnams. Rütten & Loening, Berlin 1963)

( unbekannt/vor 1960 veröffentlicht/public domain in Vietnam)

Die Verteidigung von Hanoi

Frankreich sabotierte jedoch die Beschlüsse. Am 23. November 1946 provozierte es im Hafen von Haiphong einen bewaffneten Zwischenfall, nachdem es den vollständigen Abzug der vietnamesischen Miliz und der Volksarmee aus der Stadt gefordert hatte. Die DRV lehnte das Ansinnen ab. Daraufhin beschoss französische Artillerie die Stadt und tötete etwa 6 000 Zivilisten. Danach rückten französische Truppen in Haiphong ein, stießen auf Hanoi vor und griffen es am 19. Dezember an.

Ho Chi Minh rief zum bewaffneten Widerstand auf. Die Regierung appellierte an alle Vietnamesen. „Lieber alles opfern, als die Sklaverei auf uns nehmen. Lasst uns mutig sein, liebe Landsleute. Wer ihr auch seid, ob Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, welcher Religion und welcher Nationalität ihr auch angehört; wenn ihr Vietnamesen seid, erhebt euch zum Kampf gegen die französischen Kolonialisten und zur Rettung des Vaterlandes. Wer ein Gewehr hat, kämpfe mit dem Gewehr; wer einen Degen hat, kämpfe mit dem Degen. Wer weder Gewehr noch Degen hat, kämpfe mit Schaufel, Hacke und Knüppel. Niemand darf zurückbleiben, niemand sich vom patriotischen Kampf gegen die Kolonialisten ausschließen.“

Der Aufruf fand einen tiefen Widerhall. Ohne die Teilnahme der Bevölkerung hätte Hanoi niemals 61 Tage, bis zum 17. Februar 1947, einer erdrückenden, mit Panzern und Artillerie ausgerüsteten Übermacht widerstehen können. Während der Kämpfe wurde das legendäre, aus Arbeitern bestehende Regiment der Hauptstadt formiert, das sich als letzter Truppenteil zurückzog. Aus ihm ging die berühmte 308. Division der VVA hervor, die 1954 auch an der Schlacht um Dien Bien Phu teilnahm. Betriebe und die zentralen Regierungsstellen wurden in die nordwestliche Bergregion des Viet Bac evakuiert.

Katholiken und Buddhisten treten in die Regierung ein

Während einer Regierungsumbildung im Juli 1947 traten neben sozialistischen und bürgerlichen Demokraten drei Katholiken, ein Buddhist, zwei Nationalisten, acht unabhängige Politiker und zwei ehemalige Mandarine in das Kabinett ein, in dem die Kommunisten nur noch eine Minderheit waren. Im Oktober 1947 schlug die VVA in den Bergen von Viet Bac, etwa 100  km nordwestlich von Hanoi, die Offensive der Kolonialtruppen zurück. Zur Verhüllung ihrer kolonialen Eroberung setzt Paris am 8. März 1949 den in der Augustrevolution gestürzten Kaiser Bao Dai an der Spitze eines Marionettenregimes wieder auf den Thron.

Im Herbst 1950 befreite die Volksarmee die Grenzgebiete zu der am 1. Oktober 1949 entstandenen Volksrepublik China. Die DRV erhielt jetzt militärische Unterstützung durch Peking und über deren Gebiet auch umfangreichere sowjetische Hilfe. Nach der Einführung der Wehrpflicht im November 1950 wuchs die Zahl der Befreiungskämpfer unter Waffen auf insgesamt 350 000 an (125 000 der Volksarmee, 75 000 Territorialstreitkräfte, 150 000 örtliche Milizen). Die Kolonialarmee zählte etwa 250 000 Mann, davon 76000 Franzosen, 20 000 Fremdenlegionäre, 58 000 afrikanische Söldner, der Rest Hilfstruppen des Marionettenregimes von Bao Dai.

Soldaten der vietnamesischen Befreiungsstreitkräfte hissen ihre Fahne in Dien Bien Phu (7. Mai 1954)

Soldaten der vietnamesischen Befreiungsstreitkräfte hissen ihre Fahne in Dien Bien Phu (7. Mai 1954)

( Foto: unbekannt/vor 1960 veröffentlicht/public domain in Vietnam)

Siegespfeiler Bodenreform

Der Parteitag der KPV beschloss im Februar 1951, den Widerstand bis zur Wiedererringung der nationalen Unabhängigkeit zu führen, zum Sozialismus voranzuschreiten und als Ausdruck der in der Partei zusammengeschlossenen verschiedenen Volksschichten den Namen „Partei der Werktätigen Vietnams“ anzunehmen. Im Dezember 1953 beschloss die Nationalversammlung das Dekret über eine Bodenreform. Das Land der französischen Kolonialisten und derjenigen vietnamesischen Großgrundbesitzer, die sich als Feinde der DRV erwiesen hatten, wurde entschädigungslos enteignet. Fünf Millionen arme Bauern und Landarbeiter erhielten 810 000 Hektar Boden. Die Bodenreform beseitigte die feudalen Zustände und erfüllte so eine entscheidende Aufgabe der nationaldemokratischen Revolution. Die Volksmacht wurde nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch militärisch entscheidend gestärkt und das Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, welche die Hauptlast des Kampfes trugen, auf feste politische und wirtschaftliche Grundlagen gestellt.

Am 10. Dezember 1953 begann der Angriff auf die waffenstarrende französische Dschungelfestung von Dien Bien Phu im Nordwesten des Berglandes, in der 16 000 Mann Elitetruppen der Kolonialarmee konzentriert waren. Die Schlacht endete am 7. Mai 1954 mit der Kapitulation des Festungskommandanten, General De Castries. Die koloniale Wiedereroberung Vietnams war gescheitert.

Während des Kolonialkrieges fielen 92 000 französische Soldaten; zusammen mit Verwundeten, Gefangenen und den Verlusten der Bao-Dai-Truppen verlor die Kolonialarmee insgesamt 466 172 Mann. Auf vietnamesischer Seite kamen über 800 000 Menschen um, viele Zivilisten, die Vergeltungsaktionen zum Opfer fielen.

Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte der Oberbefehlshaber der Volksarmee, General Vo Nguyen Giap, gegenüber „Le Monde“: „Rufen Sie sich die Französische Revolution ins Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und die schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten.“

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"Ein Pyrrhussieg", UZ vom 10. Februar 2017



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