De „Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe“ (BAG W) legte im September ihren neuesten Jahresbericht vor. Das Fazit: Immer mehr jüngere Menschen, mehr Frauen und mehr Familien mit minderjährigen Kindern geraten in Wohnungsnot. Besonders die Unterkunftssituation der Familien wird als „alarmierend“ bezeichnet. Denn 60 Prozent der Hilfesuchenden leben in „prekären Wohnverhältnissen“ bei Verwandten, Freunden oder Bekannten, 9 Prozent in Notunterkünften und 11 Prozent ganz ohne Obdach auf der Straße. Knapp die Hälfte der Familien (46 Prozent) sind alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern. Soweit die harten Fakten.
Viele Wohnungslose erfahren Solidarität von Freiwilligen, die helfen, wo der Staat wegschaut. Doch häufiger treffen sie auf Ablehnung und Unverständnis. „In Deutschland muss niemand auf der Straße leben“, so das (klein-)bürgerliche Mantra, dem oft noch Verweise auf das „enge soziale Netz“ folgen. Obdachlose wurden schon immer an den Rand gedrängt, pathologisiert und als alleinschuldige Versager dargestellt. Diese Grundhaltung wird bis heute von körperlichen Übergriffen und staatlichen Repressionen begleitet. Dabei ist das vielbeschworene „soziale Netz“ keineswegs lückenlos.
Da Bund und Länder regelmäßig jede Zuständigkeit von sich weisen, können Wohnungslose nur in den Kommunen konkrete Hilfen erwarten. Doch einklagbare Rechte haben sie kaum, da der Großteil der Wohnungslosenhilfe als „freiwillige Leistung“ gilt, also je nach Haushaltslage erbracht wird oder auch nicht. Verbriefte Pflichten im Umgang mit Obdachlosen gibt es bezeichnenderweise im Polizeirecht. So fasst die BAG W die Rechtslage zusammen: Die „(unfreiwillige) Obdachlosigkeit stellt eine erhebliche und unmittelbare Gefahr für das polizeiliche Schutzgut der ‚öffentlichen Sicherheit‘ dar.“ Deshalb haben Obdachlose Anspruch auf eine Notunterkunft. Doch durchsetzen lässt sich dieses Recht längst nicht immer. Manche Städte leisten sich erst gar keine Notschlafstellen, andere hindern Menschen widerrechtlich am Zugang, indem sie die „Unfreiwilligkeit“ in Frage stellen oder die Zuständigkeit auf andere Gemeinden schieben. Ein typisches Beispiel dafür liefert aktuell die Stadt Regensburg, die die Unterbringung von angeblich „ortsfremden“ Obdachlosen verhindert. Doch wie soll jemand ohne Wohnsitz beweisen, dass er ein „Regensburger Obdachloser“ und kein „ortsfremder“ ist?
Wer auf der Straße lebt, sitzt immer am kürzeren Hebel. Wenn die kalte Nacht bevorsteht, nützt es nichts, formal im Recht zu sein, sobald der Pförtner die Tür schließt. Die Liste von faulen Tricks ist lang. So wird die Ausstellung von Ausweispapieren verweigert, aber das Vorzeigen eines Ausweises verlangt. Obdachlose werden mit horrenden Bußgeldern (besonders auch aktuell, auf Grundlage der Corona-Maßnahmen) aus den Städten vertrieben. Heruntergekommene Obdächer werden sich selbst überlassen und entwickeln so von allein ihre abschreckende Wirkung. Für Frauen und Kinder gibt es in vielen Gemeinden keine spezialisierten Angebote.
Obdächer und Notschlafstellen bilden ohnehin eher einen Teil des Problems als einen Teil der Lösung. Viel wichtiger wäre eine solide Prävention, um Wohnraumverlust zu verhindern, und die schnelle Beschaffung von Wohnungen für Wohnungslose. „Housing First“ ist ein erprobtes Beispiel dafür. Das Konzept ist einfach: Wohnungslose erhalten zuerst eine Wohnung; andere Probleme (wie Schulden, Suchterkrankungen und so weiter) werden im Anschluss angegangen. Es ist höchste Zeit, dass die Kommunen damit beginnen, Wohnungen zu beschaffen. Durch Bau, Kauf, Anmietung und auch Beschlagnahmung ist das möglich. Der perverse Normalzustand, dass eines der reichsten Länder der Welt die Zunahme von Wohnungslosigkeit schlicht hinnimmt, muss beendet werden.