Internationalist und Patriot: zur deutschsprachigen Veröffentlichung des Tagebuchs von Maurice Thorez

Ein legendärer Führer der kommunistischen Weltbewegung

Maurice Thorez (1900 bis 1964) gehört zu den legendären Führern der kommunistischen Weltbewegung. Er war als 12-Jähriger Arbeiter in einem nordfranzösischen Bergwerk geworden, sein Zugehörigkeitsgefühl zur Arbeiterklasse bestimmte sein politisches Leben. 1920, im Gründungsjahr der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), wurde er deren Mitglied, von 1930 bis kurz vor seinem Tod stand er an ihrer Spitze – ein unermüdlicher Kämpfer gegen Reaktion, Faschismus und Kolonialismus. 1934 schuf er maßgeblich die antifaschistische Volksfront mit den Sozialisten. Er überlebte die Verfolgung im Exil in der So­wjet­union und zwei historische Umbrüche – die Verteidigung der 1789 revolutionär geschaffenen französischen Republik und der Aufbau des Sozialismus im ersten sozialistischen Staat der Geschichte – waren die Grundlage seiner Weltsicht und seines politischen Handelns. So setzte er als Minister einer breiten Koalition nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Sozialgesetze durch und stand in den Auseinandersetzungen in der kommunistischen Weltbewegung seit den 1950er Jahren fest an der Seite der So­wjet­union.

Das Tagebuch, das jetzt – drei Jahre nach der Vorstellung in Paris – in deutscher Übersetzung vorliegt, führte Thorez vom November 1952 bis zum 10. Juli 1964: in mehr als fünf Heften – zunächst in einem kleinen Notizbuch, dann in Schulheften. Die Faksimiles mit Fotografien, die der Band enthält, zeigen zumeist eine gut lesbare Handschrift, eine „Schönschrift“.

261202 Thorz - Ein legendärer Führer der kommunistischen Weltbewegung - CommPress Verlag, Maurice Thorez - Theorie & Geschichte

Die Einträge sind ein Spiegelbild der Zeit und einer Persönlichkeit, die unerschütterlich für die Unabhängigkeit der französischen Republik und für die So­wjet­union eintrat. Auch in Frankreich steigerte sich der Antikommunismus des Kalten Krieges in den 1950er Jahren regelmäßig zur Hysterie – etwa während des Koreakrieges, als die KPF verdächtigt wurde, eine zweite Front eröffnen zu wollen –, vor allem aber führte Frankreich in Südostasien und in Algerien brutale Kolonialkriege. Die KPF prangerte Massaker und Folter an. Das große internationale Problem jener Zeit – die Spannungen zwischen den damals einzigen Atommächten – sah Thorez mit größter Gelassenheit, es waren aber die Jahre der großen sowjetischen Raumfahrterfolge, die er im Tagebuch immer wieder stürmisch feierte. Zur DDR-Grenzsicherung am 13. August 1961 notierte er lediglich: „Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzen von Westberlin“. Zur Kuba-Krise: „25. Oktober 1962: Politbüro: Aggression der Yankees gegen Kuba.“

Die wachsenden Spannungen unter den Kommunistischen Parteien bis hin zum Bruch zwischen der KP Chinas und der KPdSU in den 1960er Jahren verfolgte Thorez distanziert, ebenso wie die Politik Nikita Chruschtschows auf dem und nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Er sprach zunächst noch mit Mao Zedong und reiste zu Enver Hodscha nach Albanien, bevor er wegen deren antisowjetischer Haltung klar gegen sie Stellung bezog. Ho Chi Minh, der die KPF mit begründet hatte, war immer wieder sein Gast oder er traf ihn in der So­wjet­union. Gleiches galt für Kommunisten und andere Kämpfer aus den französischen Kolonien oder die Kampfgefährtin Dolores Ibárruri. Besondere Sorge bereitete ihm die Entwicklung der italienischen KP hin zum Reformismus.

Thorez war Autodidakt, sein Bücherhunger unstillbar. Das Tagebuch enthält hunderte Einträge zu Autoren der Philosophie, der Ökonomie, der Geschichte und der Weltliteratur: „Ich lese jetzt …“ – Lukrez, Seneca, Spinoza, Diderot, Holbach, Goethe, Merle, Aragon, Vercors. Politische Literatur: Blanqui, Saint-Just, Babeuf, Marx und Engels (auf Russisch) und immer wieder Lenin und Stalin, aber auch Clausewitz. Aus dem Tacitus hält er fest: „,Das Volk spürte nach und nach die Übel des Krieges, da das ganze Geld für militärische Zwecke ausgegeben wurde und die Preise für Lebensmittel stiegen.‘ Aktueller geht‘s nicht!“

Und das Tagebuch zeigt: Thorez war nicht nur ein Familienmensch, er hatte engste Freunde unter Künstlern von Weltrang, darunter Fernand Léger, Pablo Picasso, Louis Aragon und Elsa Triolet. Die hohe Zahl der Einträge zu gegenseitigen Besuchen und gemeinsamen Essen verblüfft. Thorez, der viele Kräche zwischen den Künstlern und der KPF beilegte, war vermutlich einer der letzten Politiker, die derart empfänglich für Kunst waren.

Die beiden deutschen Staaten kommen im Tagebuch naturgemäß höchst unterschiedlich vor. Auf der einen Seite offenbar enge und gute Beziehungen zu Walter Ulbricht und anderen Genossen der SED, auf der anderen: Verachtung und Widerstand. Als der Altnazi und Bundeswehrgeneral Hans Speidel ausgerechnet in Paris einen NATO-Posten übernehmen sollte, intervenierte die KPF. Charakteristisch auch der Eintrag vom 22. Februar 1957 zu den Verhandlungen über die Verträge, die zur Gründung der heutigen EU führten: „Die deutsche Regierung begrüßt den Entwurf eines Vertrags über ‚Eurafrika‘, der es ihr ermöglichen würde, von der Ausbeutung der afrikanischen Völker zu profitieren, die mit dem Blut junger Franzosen unter dem Kolonialjoch gehalten werden.“

Als Thorez starb, säumten in Paris „500.000 Menschen die Straßen, um sich von ihm zu verabschieden“, schreibt der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele im Vorwort. Das Tagebuch erklärt, warum Thorez so populär war. Es ist eine Fundgrube für alle, die genauer wissen möchten, wie ein zutiefst internationalistischer und patriotischer Kommunist jene Zeit sah, was ihn leitete und welche Weichen damals bis ins Heute gestellt wurden.

Maurice Thorez
Tagebuch 1952 – 1964
UZ Edition/CommPress Verlag, Essen 2024, 860 Seiten, 35,00 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

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"Ein legendärer Führer der kommunistischen Weltbewegung", UZ vom 28. Juni 2024



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