Die Duisburger Friedensaktivistin Inge Holzinger ist am 23. April im Alter von 90 Jahren gestorben. Mit ihrer Lebenserfahrung und humanistischen Gesinnung habe sie „alle Kraft darauf verwendet, mit viel Geduld und Ausdauer jungen Menschen Friedensliebe, Demokratie und Achtung vor dem Mitmenschen und dem Leben nahe zu bringen“, sagte Willi Hoffmeister anlässlich der Verleihung des Düsseldorfer Friedenspreises 2006 an Holzinger. Davon zeugen unzählige Beileidsbekundungen von Friedenskämpfern, Antifaschisten, Gewerkschaftern und Kommunistinnen und Kommunisten aus Duisburg und Umgebung, in denen sich auch sehr junge Menschen tief betroffen über Holzingers Tod äußern.
Inge Holzinger trat 1967 in die illegale KPD ein, ab 1968 baute sie die DKP in Duisburg mit auf. Vor allem aber prägte sie die Arbeit der Friedensbewegung in Duisburg und den Ostermarsch Rhein-Ruhr. Im Januar 2022 bekam sie den Preis für Toleranz und Zivilcourage des gleichnamigen Duisburger Bündnisses verliehen. Aus diesem Anlass besuchte UZ Holzinger, um mit ihr über ihr engagiertes Leben zu sprechen. Erst nach ihrem Tod veröffentlichen wir Auszüge aus dem Gespräch – in ehrendem Gedenken.
UZ: Inge, du hast den Zweiten Weltkrieg als junges Mädchen miterlebt. 1943 seist du durchs Feuer gerannt, hast du mal gesagt. Erzählst du uns von deinen Erinnerungen?
Inge Holzinger: Wir sind ausgebombt worden. Wir saßen im Keller und die Bomben fielen um uns herum – dieses furchtbare Getöse! Als es still war, kamen ein paar Männer. Die sagten, ihr müsst jetzt raus aus dem Keller, hier brennt alles. Das war in einem dicht bebauten Wohnviertel. Im Oktober, die Bäume waren kahl. Brennende Äste fielen von den Bäumen. Meine Mutter ist da mit meinem Bruder und mir durch. Mit einer kleinen Handtasche, in der sie die Papiere hatte. Über Nacht sind wir in einem Sandkasten geblieben, da waren wir vor dem Feuer geschützt. Am nächsten Tag sind wir zu Fuß in einen anderen Stadtteil. Schließlich sind wir in einer Schule geblieben. Abends wurden wir auf einem Lkw in ein Nachbardorf transportiert, wo wir beim Bäcker unterkamen.
UZ: Das sind prägende Erlebnisse. Wann bist du dann politisch aktiv geworden?
Inge Holzinger: Während meines Studiums in Bielefeld. Das habe ich mit 27 Jahren begonnen. Ich bin mit 17 aus der Schule, habe eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin gemacht und sieben Jahre gearbeitet. Wenn du in normalen Berufen bist – da bleibt nicht viel Zeit für politische Gespräche mit Kollegen. Während des Studiums hatte ich dann Zeit nachzudenken. Es gab keinen äußeren Anlass, dass ich mich plötzlich um Politik kümmern musste. Es war nur die Zeit dafür da, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen.
Meine Eltern waren nicht politisch. Meine Mutter sowieso nicht. Mein Vater hat allerdings so unkonventionelle Sachen gemacht. Eine Sache, die mir immer wieder einfällt: Am Tag nach dem 9. November 1938 ist er mit mir durch die Stadt gelaufen. Ich war fünf. Alles war still, vormittags, im Nebel, alles diesig. Außer uns waren kaum Menschen unterwegs. Wir sind zum Laden eines jüdischen Schneiders gegangen. Der hat für meinen Vater gearbeitet. Nach der Reichspogromnacht hat sich mein Vater also morgens auf den Weg gemacht, um zu gucken, was mit dem los ist. In der Tür stand diese Frau, ganz klein und zierlich, und weinte furchtbar. Mein Vater sprach mit ihr. Sie sagte, der Schneider sei davongekommen. Der Laden war nicht zerstört. Der Schneider hatte ihn ihr für eine Mark verkauft. Was eine Mark wert ist, wusste ich schon. Dass man einen ganzen Laden für eine Mark verkauft, war für mich unvorstellbar.
UZ: Noch bevor du Kommunistin wurdest, bist du 1963 in die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft eingetreten.
Inge Holzinger: Ja, gleich, als ich angefangen habe, als Lehrerin zu arbeiten. Ich wollte schon als Studentin in Bielefeld eintreten, aber die wollten mich nicht. Die haben gesagt, warte, bis du irgendwo angestellt bist, und trete dann ein.
In der GEW habe ich immer viel gemacht. Als ich an der Realschule war, habe ich die Fachgruppe Realschule geleitet. Und dann war ich im Stadtverbandsvorstand. Und dann beim DGB – im Frauenausschuss, im Beamtenausschuss, hinterher noch im Seniorenausschuss.
UZ: Wie kam es dann, dass du vom Berufsverbot bedroht, dann aber auch freigesprochen wurdest?
Inge Holzinger: Ich hatte drei Anhörungen und einen Prozess. Den habe ich gewonnen. Es ging um Bottrop. Dort gab es eine Nachmittagsschule. Da habe ich zwar nicht unterrichtet, war aber im Pädagogischen Rat. Ein CDU-Mann aus Essen hat eine Genossin angeschwärzt, die auch in dem Gremium war. Dabei hat der festgestellt, dass ich da auch aktiv bin und hat mich ebenfalls hingehängt.
Herbert Lederer hat mich in dem Prozess vertreten. Der hat den Richter ganz schlimm beschimpft. Ich hatte richtig Angst. Am Ende kam aber heraus, dass es kein Dienstvergehen ist, wenn ich in Bottrop im Pädagogischen Rat bin, aber in Duisburg-Neudorf an der Schule unterrichte.
UZ: In der Ostermarschbewegung warst du von Anfang an dabei?
Inge Holzinger: 1960 gab es den ersten Ostermarsch im Norden, 1961 dann den Ostermarsch Ruhr. 1962 bin ich zum ersten Mal mitgelaufen, von Bielefeld aus. Da gab es schon erste Auseinandersetzungen. Es wurde diskutiert, ob die Bielefelder ins Ruhrgebiet oder nach Hannover gehen. Die SPD hat sich durchgesetzt, die Bielefelder gingen nach Hannover. Man wollte den Ostermarsch Ruhr nicht zu stark machen.
Intensiv habe ich erst 1989/90 mit Friedensarbeit angefangen. Da dachten viele, die Gefahr ist gebannt, es gibt keine Kriege mehr. Es gab keinen Gegner mehr, es gab keine Sowjetunion mehr. Und auch unsere Partei war ja auf einmal ganz klein geworden. Da war kein Mensch mehr da! In ganz Duisburg waren wir noch vier Leute, die Friedensarbeit gemacht haben.
UZ: Dir lag auch die internationale Solidarität am Herzen, und du warst in der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba aktiv …
Inge Holzinger: Da habe ich lange mitgemacht. Wir haben viele Sachen nach Kuba geschickt, auch Geld, sehr lange. Alle vier Wochen haben wir eine Veranstaltung zu Kuba durchgeführt, manchmal auch mit Referenten aus Kuba. Ich war fünf Mal in Kuba. Das ist schon toll. Du kommst da an und steigst aus dem Flugzeug. Die linde Luft umweht dich und du fühlst dich gleich als ein ganz anderer Mensch!
Das erste Mal wollte ich eigentlich gar nicht nach Kuba. Ich wollte eigentlich nach Sotschi, habe aber keine Reise mehr bekommen – ich musste mich ja immer an die Sommerferien halten. Dann bin ich eben nach Kuba. Und war so begeistert, dass ich Ostern gleich nochmal gefahren bin.
Als ich nicht mehr gearbeitet habe, kamen die schwierigen Jahre auf Kuba. Da habe ich wirklich gesehen, wie elend es den Menschen ging. In dieser Zeit war ich drei Mal dort. Aber ich habe dann auch gesehen, wie es besser wurde. Beim dritten Mal war es wirklich wesentlich besser geworden. Das ist sehr schön. Kuba muss bleiben, das darf nicht kaputt gehen.
UZ: Woher hast du den langen Atem genommen, dich dein ganzes Leben politisch so zu engagieren?
Inge Holzinger: Ich denke, das ist einfach nur Hartnäckigkeit. Es ist notwendig, und dann muss man es machen. Es sind ja auch immer andere Leute da und es ist immer spannend und interessant, mit anderen zusammenzuarbeiten. Da brauchst du kein Kino und kein Theater mehr.
UZ: Was sind die wichtigsten politischen Aufgaben, vor denen wir heute stehen?
Inge Holzinger: Heute muss es gegen den Krieg gehen, gegen dieses 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm. Auch ganz wichtig ist die Inflation. Die nimmt ja manchen Leuten wirklich die Möglichkeit zum Leben. Das ist ja ungeheuerlich. Wir müssen dafür sorgen, dass es Unterstützung gibt für die Leute, auch für die Kinder.
Ich denke, wir sind im Moment in einer ganz schlimmen Situation. Die Kräfte müssten viel stärker sein. Aber viele interessieren sich nicht mehr, haben auch die Kraft nicht, wenn sie sich um ihr Leben kümmern müssen. In Duisburg sind nur noch 40 Prozent zur letzten Wahl gegangen. Vor allem in den armen Stadtteilen bleiben die Leute zuhause, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen.
UZ: Ein solches Aufrüstungsprogramm gab es zuletzt vor dem Zweiten Weltkrieg. Hättest du gedacht, dass du so was noch erleben musst?
Inge Holzinger: Nein, wirklich nicht. Bis zum Schluss nicht, als Olaf Scholz plötzlich sagte, wir liefern jetzt Waffen an die Ukraine. Interessant ist, es ist immer die SPD, die solche Sachen macht. Hartz IV wurde von der SPD eingeführt. Und jetzt die „Zeitenwende“. Die CDU hätte sich das nicht leisten können.
Am Schlimmsten sind ja die Grünen. Die haben sich wirklich um 180 Grad gedreht. Das ist ganz furchtbar. Aber die Leute erkennen das noch nicht. Es sind immer noch so viele der Meinung, die Grünen machten eine gute Politik.
UZ: Hast du noch einen Rat an die Jugend?
Inge Holzinger: Da kann ich nur sagen: Lasst euch nichts gefallen! Ihr müsst alles hinterfragen, euch eure eigene Meinung bilden – und dann müsst ihr auch durchsetzen, was ihr für richtig haltet!
Inge Holzinger wird am 12. Mai um 13 Uhr auf dem Friedhof Frintrop in der Pfarrstraße in Essen beigesetzt. Die Trauerfeier findet am 13. Mai um 14 Uhr in der Alten Feuerwache, Friedenstraße 5 bis 7, in Duisburg-Hochfeld statt.
Inge Holzinger war stets solidarisch mit dem sozialistischen Kuba. Sie hat die rote Insel auch in ihrem Testament bedacht: Ein Teil ihres Erbes kommt auf ihren Wunsch der Digitalisierung der Kinderklinik Rosa Luxemburgo in Cárdenas zugute. Auf ihrem 25. Parteitag im März hatte die DKP beschlossen, 25.000 Euro für dieses ehrgeizige Solidaritätsprojekt zu sammeln (siehe UZ vom 29. März). Anstelle von Blumen wird im Sinne von Inge um eine Spende für das Projekt gebeten.
Spendenkonto DKP-Parteivorstand
GLS-Bank | BIC: GENODEM1GLS | IBAN: DE63 4306 0967 4002 4875 01
Stichwort „Kuba-Solidarität“