Ein Reisebericht aus Brasilien

Ein Land zwischen Resignation und Hoffnung

Am 2. Oktober sind etwa 148 Millionen Wahlberechtigte in Brasilien aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Die Umfragen sehen zum Zeitpunkt meiner Reise im Sommer diesen Jahres den Kandidaten der Arbeiterpartei PT Lula da Silva mit etwa 40 Prozent vor dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro, dem rund 30 Prozent vorausgesagt werden. Von vielen im In- und Ausland wird die Wahl als entscheidende Richtungswahl wahrgenommen, einige sprechen mit Blick auf den Wahltag sogar von einem Schicksalstag.

Eine ungewöhnliche Reise

Als das Flugzeug nach 14 Stunden in Rio de Janeiro landet, sind in meinem Kopf die Bilder der Corona-Massengräber in der roten Lehmerde von Manaus noch genauso präsent wie die Weigerung des amtierenden Präsidenten Bolsonaro, die Pandemie als solche anzuerkennen. Viel zu spät und ungenügend wurden Schutzmaßnahmen und Impfungen in die Wege geleitet.

Auch wenn nun, im Sommer 2022, das Schlimmste überstanden scheint, werden manche Auswirkungen von Bolsonaros Politik erst jetzt so richtig sichtbar und deutlich: Auf Plätzen und Straßen, unter Brücken und am Strand leben tausende Menschen ohne festen Wohnsitz. Laut Daten der brasilianischen Statistikbehörde ist mit Bolsonaros Amtsübernahme und der Kürzung beziehungsweise Streichung diverser Sozialprogramme seines Vorgängers Lula der Hunger in großem Ausmaß nach Brasilien zurückgekehrt. Bereits in der Zeit von 2014 bis 2019, also noch vor der Pandemie, stieg die Zahl der stark von Hunger betroffenen Menschen auf 10,3 Millionen. Eine aktuelle Studie bescheinigt, dass 55 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind, davon 19 Millionen, das sind 9 Prozent der Gesamtbevölkerung, existenziell. Paradoxerweise hindert all das Bolsonaro nicht daran, sich in den schier omnipräsenten Werbespots, in denen er um seine Wiederwahl buhlt, mit den wenigen, nicht eingestampften Sozialleistungen seines Vorgängers zu schmücken.

2019 wurde Lula aus dem Gefängnis entlassen und alle Prozesse gegen ihn wegen grober Verfahrensfehler und nachweislich parteiischer Ermittlungen annulliert, was ihn nun in die Position des aussichtsreichen Gegenkandidaten und Führer des oppositionellen Wahlbündnisses bringt. Gleichzeitig ist Korruption in Brasilien allgegenwärtig und viele Menschen sagen schlicht allen Politikern ausgeprägte Ambitionen zu größtmöglicher persönlicher Bereicherung nach.

Pablo vom kleinen Eckcafé neben unserer Unterkunft macht uns gleich am ersten Tag auf einen aktuellen Fall aufmerksam, bei dem es um dreistellige Millionenbeträge geht: Im Stadtrat von Rio de Janeiro wurde ein Programm zur Sport- und Sozialförderung beschlossen und detailliert aufgelistet, an welche Orte das Geld angeblich geflossen ist. Als sich Journalisten die Mühe machten nachzuforschen, standen sie mal vor einer Tankstelle, die eigentlich ein Fußballplatz sein sollte, mal vor einem verlassenen Bürokomplex, in dem angeblich Tanz- und Schwimmkurse stattfinden. Wohin die Millionen tatsächlich geflossen sind, weiß niemand.

Während sich viele Menschen mal frustriert und angewidert, mal resigniert und schulterzuckend von der Politik beziehungsweise deren Repräsentanten abgewendet haben, führt die Rechte einen umso erbitterten Kampf gegen engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Linke und Vertreter der indigenen Bevölkerung. 40.000 Morde wurden in Brasilien im letzten Jahr verübt, davon viele durch Polizeigewalt und um unliebsame Stimmen zum Schweigen zu bringen. Beim Auftragsmord an der linken afrobrasilianischen Stadträtin Marielle Franco im Jahr 2018, die sich gegen Polizeigewalt in den Favelas engagiert hatte, wurde die Verstrickung des damaligen Kongressabgeordneten Bolsonaro bis zum heutigen Tag bewusst vertuscht.

Der zugespitzte Wahlkampf zwischen Lula und Bolsonaro ist aktuell beinahe überall präsent im Straßenbild – mit Graffitis, Parolen, Fahnen und Kundgebungen. Wir erleben eine Kundgebung für Bolsonaro in einem der Außenbezirke von Rio und eine PT-Kundgebung in Rocinha, einer der größten Favelas. Sooft und solange wir aber auch immer wieder Fernsehbeiträge verfolgen, ob nun Nachrichten oder Telenovelas: Wir sehen keinen einzigen PT-Wahlwerbespot – dafür aber Bolsonaro, seine Partei, sein Grinsen, in Dauerschleife. Die Einseitigkeit in der Berichterstattung ist bemerkenswert, auch was aktuelle Themen wie eine erneute Polizeirazzia in den Favelas mit mehreren Toten oder den Mord an zwei Journalisten angeht.

Wer wählt Bolsonaro?

Immer wieder stelle ich mir die Frage: Bei all den verheerenden Auswirkungen seiner Politik – wer steht noch treu zu Bolsonaro? Die allgemeine Antwort lautet: von Abstiegsängsten und antikommunistischer Hetze beeinflusste Angehörige der Mittelschicht, Konservative mit einem Faible für Waffen, Anhänger der überall präsenten, evangelikalen Kirchen. Die konkrete Antwort lautet: Delmar. Delmar ist Reiseleiter und begleitet uns in der Stadt Foz de Iguaçu in den gleichnamigen Nationalpark. Er kennt sich aus mit der Natur, liebt seine Enkeltochter und hatte während der Pandemie, als der Tourismus einbrach, eine schwere Zeit. Er bekennt sich zu Bolsonaro. Auf dessen verheerende Bilanz angesprochen – tausende von Toten und eine enorm zunehmende Umweltzerstörung –, behauptet Delmar, dass der brasilianische Bundesgerichtshof verhindert hätte, dass Bolsonaro sein Programm umsetzt, und die Medien nur Lügen über ihn verbreiten würden.

Delmar lässt mich mit seiner Verbohrtheit und Engstirnigkeit nachdenklich zurück. Als sich der Tod der beiden Enthüllungsjournalisten bestätigt, die im brasilianischen Amazonasgebiet zu Umweltverbrechen recherchiert hatten, schicke ich ihm per WhatsApp einen Bericht dazu. Er bedankt sich höflich. Zwei Wochen später kommt es in dem beschaulichen Ort Foz de Iguaçu, den wir doch gerade erst verlassen haben, zu einem Mordanschlag auf ein örtliches PT-Leitungsmitglied. Auf seiner Geburtstagsfeier wird er von einem Bolsonaro-Anhänger erschossen, er hinterlässt eine Frau und vier Kinder. Delmar findet das schlimm, aber er verbittet es sich, den Präsidenten damit in Verbindung zu bringen. 2018 sagte Bolsonaro im Wahlkampf wörtlich: „Knallen wir den Abschaum von der Arbeiterpartei ab!“ Der aktuelle Mord beschäftigt die Medien, die Angst vor einer weiteren Eskalation ist groß.

Unter Freunden in São Paulo

Mit Gewalt, besonders mit Polizeigewalt, kennt man sich an der Universität von São Paulo aus. Es sind Hochschulwahlen. Bolsonaro bedroht die Unabhängigkeit der Universitäten, sie sind ihm als Brutstätte linker Ansichten ein Dorn im Auge. Ich diskutiere mit Miguel: Hauptprobleme sind aus seiner Sicht die Finanzierung der öffentlichen Bildung und das zusammengekürzte Stipendienprogramm. Aber auch die Corona-Toten unter den Studierenden und dem Lehrkörper sind noch sehr präsent. Die Wut auf Bolsonaro ist mit Händen greifbar.

Auch an anderen Orten in der Stadt brodelt es: Mal streiken die Busfahrerinnen und -fahrer und legen den Verkehr in der Stadt lahm, tags darauf begegnen wir einer Kundgebung der Bankangestellten im Bankenviertel von São Paulo, die Angst um ihre Arbeitsplätze, ihre Pensionen und ihre Gesundheitsversorgung haben. Die anwesende Gewerkschaftssekretärin erklärt, dass ähnliche Kundgebungen als Startschuss zu einer landesweiten Kampagne auch noch in vielen weiteren Städten stattfinden. Und natürlich haben sie eine klar ablehnende Haltung gegenüber dem amtierenden Präsidenten.

Putsch?

Geht es nach den Umfragen, so stehen die Chancen gut, dass sie alle Bolsonaro nicht über den 2. Oktober hinaus ertragen müssen. Doch es herrscht große Verunsicherung darüber, ob er sich an bürgerlich-demokratische Spielregeln halten wird. Zwar hat Lula viel dafür getan, der herrschenden Klasse zu signalisieren, dass von ihm und seiner Regierung keine Gefahr für die bestehenden Verhältnisse ausgehen wird. Aber Bolsonaro baut bereits vor: Verbindungen zwischen ihm und Donald Trumps Wahlkampfteam sind seit langem bekannt. So verfährt der rechtsextreme Präsident nach einem ähnlichen Muster wie sein US-amerikanisches Vorbild: Er streut bereits jetzt Zweifel über die Zuverlässigkeit des (digitalen) Wahlsystems. Dabei fungiert der Präsident als Einpeitscher, während in den Medien darüber diskutiert wird, ob nicht der gesamte Wahlprozess in den Händen des Militärs besser aufgehoben wäre, denn dort läge schließlich die technische Expertise, ein so kompliziertes Wahlsystem auch angemessen zu überwachen. Für ein Land, hinter dem zwei Jahrzehnte Militärdiktatur liegen, ein bemerkenswerter Diskurs.

Vor Brasilien und seinen vielen tausend engagierten und für ihre Rechte kämpfenden Kolleginnen und Kollegen und Genossinnen und Genossen liegt ein aufregender und entscheidender Wahlkampf.

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