Auch im sechsten Monat der Verhandlungen ist im Tarifkonflikt im Handel noch kein Durchbruch in Sicht. „Die Positionen sind noch sehr weit voneinander entfernt“, sagte ver.di-Fachbereichschefin Stefanie Nutzenberger am 2. September während einer Online-Veranstaltung der Gewerkschaft. Am Tag zuvor war in Nordrhein-Westfalen die fünfte Verhandlungsrunde, in die offenbar besondere Hoffnungen gesetzt worden waren, erneut ergebnislos abgebrochen worden. ver.di kündigte daraufhin an, die Streiks im Einzelhandel auszuweiten.
Die Unternehmer hatten in den Verhandlungen ihr bisheriges Angebot nur minimal verbessert. Sie wollen die Beschäftigten mit einer Lohnerhöhung von 2 Prozent rückwirkend zum 1. Juli abspeisen. Eine weitere Erhöhung von 1,8 Prozent soll es demnach zum 1. August 2022 geben. „Das Angebot ist in vielerlei Hinsicht inakzeptabel“, so ver.di-Verhandlungsführerin Silke Zimmer. „In diesem Jahr bedeutet es Reallohnverluste und bleibt somit weit hinter der aktuellen Preissteigerungsrate von 3,8 Prozent zurück. Damit provozieren die Arbeitgeber eine weitere Verschärfung des Konflikts. Jedoch sollten sie wissen, dass wir bisher noch mit angezogener Handbremse unterwegs waren. Nun zwingen sie uns dazu, richtig Gas zu geben. Dazu sind wir bereit – bis die Botschaft endlich ankommt.“
Vor allem in NRW und Bayern waren in den vergangenen Monaten bereits Tausende Beschäftigte tageweise in den Ausstand getreten. In den überregionalen Medien spielt der Arbeitskampf jedoch kaum eine Rolle. Das könnte daran liegen, dass die Auswirkungen der Streiks bislang überschaubar geblieben sind. Die Kampfbedingungen für ver.di sind kompliziert, denn der Organisationsgrad in der Branche ist gering. Die meisten Beschäftigten arbeiten nur in Teilzeit und haben oft einen oder zwei weitere Jobs, um über die Runde zu kommen. Viele von ihnen identifizieren sich deshalb kaum mit „ihrem“ Unternehmen. Dadurch aber sind sie für Gewerkschaft und Betriebsrat nur schwer ansprechbar.
ver.di fordert in den Tarifverhandlungen für den Einzel- und Versandhandel, die parallel in allen Bundesländern geführt werden, eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent plus 40 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Zudem sollen die untersten Gehaltsgruppen auf einen Stundenlohn von mindestens 12,50 Euro angehoben werden. Und schließlich fordert die Gewerkschaft die Gegenseite auf, gemeinsam die Allgemeinverbindlichkeit der ausgehandelten Tarifverträge zu beantragen.
Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) durch das zuständige Arbeitsministerium würde auch nicht tarifgebundene Unternehmen verpflichten, den Tarifvertrag anzuwenden. Dann könnte etwa der Online-Riese Amazon nicht mehr die branchenüblichen Regelungen unterlaufen. Tatsächlich jedoch nimmt die Tarifbindung im Handel seit Jahren ab, nur noch etwa ein Drittel der Beschäftigten arbeitet unter dem Schutz von Tarifverträgen. „Wir brauchen eine Trendwende zu besseren Verdiensten im Handel, der zunehmend zu einem Niedriglohnsektor wird“, erklärt deshalb die hessische Gewerkschaftssekretärin Mechthild Middeke. Sie hat die Beschäftigten bei Amazon in Bad Hersfeld in der vergangenen Woche erneut zum Streik aufgerufen. Die Arbeit in den beiden dortigen Versandzentren wurde am Freitag, Samstag und Montag niedergelegt. „Seit Jahren kämpfen Beschäftigte für einen Tarifvertrag, Amazon darf das nicht länger ignorieren“, so Middeke.
Schon in den Tagen zuvor hatte ver.di zusammen mit der DGB-Initiative „Faire Mobilität“ gezielt die für Amazon arbeitenden Fahrerinnen und Fahrer angesprochen und über ihre Rechte informiert. „Den Preis für die sprudelnden Gewinne des weltgrößten Online-Händlers bezahlen auch die Kolleginnen und Kollegen, die die Pakete transportieren und zustellen, und zwar mit prekären Arbeitsbedingen bei Subunternehmen oder als Solo-Selbstständige. Wir fordern Amazon auf, diese Beschäftigten direkt bei sich anzustellen“, erklärte Robin Faber, Gewerkschaftssekretär bei ver.di Bayern. „Unabhängig davon brauchen wir mehr Kontrollen in der gesamten Branche durch die Behörden, damit Verstöße gegen das Mindestlohngesetz, das Arbeitszeitgesetz oder das Arbeitnehmerentsendegesetz entdeckt und geahndet werden. Es kann nicht sein, dass der boomende Online-Handel, der kostenfreie Lieferungen und Rücksendungen bietet, auf der Ausbeutung von Menschen beruht“, kritisierte Faber.