Die Vergangenheit ist ein tückisches Ding. Manch einer, der von ihr eingeholt wird, hatte längst vergessen, dass er eine hatte. So zum Beispiel Geoff Mercer, einst leitender Angestellter, nun Rentner und seit 45 Jahren verheiratet mit der ebenfalls verrenteten Lehrerin Kate. In einer Woche wollen sie ihr Hochzeitsjubiläum groß feiern, da platzt in diese durchaus freudige Feier des Vergangenen ein Brief, der Geoff an seine längst verdrängte große Liebe erinnert: Lange bevor er Kate kennen lernte, hatte Geoff mit der jungen Deutschen Katja in den Schweizer Alpen eine Wanderung unternommen, bei der Katja in eine Gletscherspalte gestürzt und erfroren war. Nun hat der tauende Gletscher die Leiche freigelegt, und Geoff wird gebeten, sie zu identifizieren, da die beiden sich im Hotel als Verheiratete ausgegeben hatten. Von Katja hatte er Kate zwar erzählt, aber die Tiefe dieser Beziehung verschwiegen, um seine neue Liebe nicht zu gefährden …
Regisseur Andrew Haigh, der hier eine Kurzgeschichte von David Constantine zum Drehbuch adaptierte, zählt jene sieben Tage in strenger Chronologie durch und gewinnt aus der weiten, windzerzausten Landschaft Norfolks, in die Lol Crawleys vorzügliche Kameraarbeit das Paar immer wieder einbettet, zusätzliche Elemente von Ruhe und Besinnlichkeit. Ohne dieses dramaturgische Gerüst wären die emotionalen Stürme und Turbulenzen wohl auch kaum auszuhalten, in die der Brief das Ehepaar stürzt – natürlich auch nicht ohne eine Besetzung, die den schauspielerischen Herausforderungen eines solchen Zwei-Personen-Stücks perfekt gewachsen ist. Tom Courtenay, seit den frühen 1960er Jahren ein Star der britischen Bühnen und der sozialkritischen „Kitchen sink-Filme“, war jahrelang kaum noch auf der Kinoleinwand zu sehen. Nun kehrt er mit Aplomb und Brillanz zurück und gibt den Geoff als feinfühligen, ruhigen Alten, der mit den hereinbrechenden Erinnerungen nur mühsam fertig wird. Als Kate ihm von einer Armbanduhr berichtet, die sie ihm beinahe gekauft hätte, ist seine Antwort zugleich eine Selbstdiagnose: „Ich liebe es, die Uhrzeit nicht zu wissen.“
Und erst diese Charlotte Rampling als Kate!!! So als habe die Kamera sich von ihrem Gesicht gar nicht trennen können, bestimmen ihre Nahaufnahmen den Tenor des Films, und Regie wie Kamera schwelgen geradezu in dem Meer von Emotionen, von Angst und Wut, Liebe und Verlust, das in ihren Zügen, in ihren umschatteten blauen Augen tobt. Nicht dass diese Kate an Geoffs Seite nicht glücklich gewesen wäre all diese Jahre, aber die wiegen den Schock über Geoffs Verschweigen nicht auf. Es scheint, als stehe sie ähnlich wie ihre tote „Rivalin“ Katja an einem tödlichen Abgrund, und nur die konkreten Vorbereitungen für die Jubelfeier halten sie noch auf dem Boden.
Rampling und Courtenay erhielten bei der Berlinale für ihre Leistung je einen Silbernen Bären und dürften auch hoch favorisierte Oscar-Kandidaten sein. Die wirklich geniale Besetzung erlaubt es Haigh, auf jede äußerlichen Effekte zu verzichten und jeder kleinsten Regung und Geste seiner Darsteller eine fast explosive Wirkung zu geben. Für einen winzigen Moment taucht in einer Rückblende auf Katjas Sturz sogar eine solche Spannung auf, dass man sich schon auf dem Weg in einen ordinären TV-Krimi wähnt, aber Haighs konsequente Regie meidet souverän auch diese Klippe, wie er auch sonst auf jede moralische Bewertung seiner Hauptfiguren verzichtet. Sein Film ist im besten Sinne ein Film für Erwachsene, ein Kleinod britischer Film- und Schauspielkunst, dem man die größte Verbreitung wünschen möchte – nur bitte nicht im Popcorn-Kino!