Das Ende der Schraubenfabrik in Neuss

Ein kapitalistisches Lehrstück

Von Vincent Cziesla

Am 30. November 2015 war Schluss. Zum letzten Mal gingen die verbliebenen Mitarbeiter der Neusser Whitesell-Fabrik zur Arbeit. Dann war das bittere Ende erreicht und es kam, trotz der zahlreichen Insolvenzen, die das Werk und seine Belegschaft bereits hinter sich hatten, dennoch überraschend plötzlich.

Bis 1980 firmierte das Unternehmen unter dem Gründernamen „Bauer & Schaurte“ und war durch die Erfindung und Produktion der Innensechskant-Schraube (Inbus) weltweit bekannt geworden. 1980 erfolgte die Fusion mit den saarländischen Karcher Schraubenwerken, 1993 kam es zur Insolvenz der Muttergesellschaft Saarstahl. Im Anschluss wurde die Fabrik von Investor zu Investor weitergereicht. Im Jahr 2012 hatte das Werk eine beeindruckende Anzahl von Firmennamen und Insolvenzverfahren hinter sich gebracht und gehörte nun zur Ruia AG, einer Gesellschaft, die schon bald insolvent war und von der Whitesell Germany GmbH aufgekauft wurde.

Die Übernahme war hoch umstritten. Arbeiterschaft und IG Metall protestierten gegen die Forderungen des Investors: Whitesell wollte aus dem Flächentarifvertrag aussteigen, Beschäftigte entlassen, die Wochenarbeitszeit erhöhen und Urlaubsansprüche kürzen. Dem Vorhaben der Arbeiterschaft, die Suche nach anderen Investoren voranzutreiben, kam Whitesell durch eine schnelle Kaufabwicklung zuvor. Zu diesem Zeitpunkt warnten die Mitarbeiter bereits davor, dass die Werke mit Whitesell keine Zukunftsperspektive haben würden.

Diese Warnungen wurden innerhalb kürzester Zeit bestätigt. Direkt nach der Übernahme schrieb Whitesell die Kunden der ehem. Ruia AG an und verkündete enorme Preiserhöhungen. Die Belegschaft protestierte und warnte vor einem Einbruch bei den Aufträgen. Bis zur Whitesell-Übernahme hatten die Werke schwarze Zahlen geschrieben und ihre Auftragslage auch durch umfangreiche Lieferverträge mit großen Automobilherstellern stabilisiert. VW und andere Großkunden kündigten umgehend ihren Rückzug aus den Lieferverträgen mit Whitesell an, waren jedoch aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades der in den Werken gefertigten Teile zunächst gezwungen, die um bis zu 30 Prozent erhöhten Preise zu zahlen. Allen Warnungen und Ankündigungen zum Trotz blieb Whitesell bei seiner Preispolitik, erzielte kurzzeitig gewaltige Gewinnspannen und trieb die Werke sehenden Auges in die Pleite.

Die selbstverschuldete schlechte Auftragslage nutzte Whitesell nun als Vorwand, um umfangreiche „Restrukturierungsmaßnahmen“ anzukündigen: über 600 Arbeiter sollten entlassen und das Neusser Werk geschlossen werden. Gewerkschaft und Betriebsrat klagten gegen den Versuch, die Entlassungen ohne Sozialplan durchzuführen und gewannen vor dem Arbeitsgericht. Ein Pyrrhussieg, denn Whitesell entzog sich durch einen Insolvenzantrag jeder weiteren Verantwortung für die Belegschaft. Die nach dem Verfahren zugesicherten Abfindungen wurden nicht bezahlt. Stattdessen stand nun die Zukunft aller Whitesell-Werke in Frage. Das US-Unternehmen hatte die Zeit vor dem Insolvenzantrag genutzt, um die Gesellschaft aufzuspalten. Die Arbeiter waren bei der insolventen Whitesell Germany GmbH beschäftigt, während die verbliebenen Sach- und Vermögenswerte bei einer Luxemburger Holding lagen. Whitesell hatte die gekauften Werke ausgesaugt, kurzzeitige Maximalprofite realisiert und anschließend in Sicherheit gebracht, bevor die Belegschaft in die Insolvenz geschickt wurde.

Der Insolvenzverwalter suchte nun nach Investoren für die vier ehemaligen Ruia-Werke. Zügig wurde das Paket aufgeschnürt und das „Rosinenpicken“ begann. Für die Fabriken in Beckingen und Schrozberg wurden schnell neue Eigentümer gefunden, auch das Werk in Neuwied konnte weiter betrieben werden. Um das Neusser Werk war es jedoch schlecht bestellt, obwohl Betriebsrat und IG Metall alles versuchten, um den Betrieb fortzuführen und neue Kunden zu gewinnen. Wohlgemerkt in einer Situation, in der die Produktionsmittel einer Holding-Gesellschaft gehörten, die vom ehemaligen Arbeitgeber kontrolliert wurde.

Unterstützung kam aus der lokalen Politik. Die DKP Neuss erklärte sich in zwei offenen Briefen mit der Belegschaft solidarisch. Stadtrat und Verwaltung erklärten, dass sie allen Versuchen das Grundstück als Wohn­immobilie zu vergolden, einen Riegel vorschieben würden. Die Stadt bot sogar den Ankauf des Firmengeländes an, um dort mit Hilfe eines Investors die Produktion fortführen zu können.

Alle Bemühungen waren vergeblich. Zwar gelang es, Whitesell wenigstens von der Übergabe des Grundstückes und der Fabrikgebäude an den Insolvenzverwalter zu überzeugen (was sicher auch auf die enormen Altlasten zurückzuführen ist), doch ein neuer Investor wurde nicht gefunden.

Als die Schließung des Werkes verkündet wurde, arbeiteten gerade noch 109 der ehemals 300 Mitarbeiter in der Fabrik. Innerhalb von zwei Jahren hatte Whitesell das Werk heruntergewirtschaftet, die Kunden vergrault, die Arbeiter um ihre Löhne, Abfindungen und Arbeitsplätze gebracht und sich gleichzeitig enorme Gewinne und Sachwerte gesichert. Auf Seiten des US-Investors gab es niemals die Absicht, eine langfristige Produktion aufrechtzuerhalten. In Zeiten niedriger Zinserträge war der Ankauf lediglich ein lohnendes Anlage-Experiment und vielleicht auch eine gute Gelegenheit, um potentielle Konkurrenten zu beseitigen. Die eigentlich rentablen und mit Aufträgen versorgten Werke wurden ausgeschlachtet und sich selbst überlassen – Kapitalverwertung durch Vernichtung.

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"Ein kapitalistisches Lehrstück", UZ vom 29. Januar 2016



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