Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher (Teil 1)

Ein Jahrhundertprozess

Von Tim Engels

„Der Welt wird etwas verlorengehen, wenn die Geschichte dieser Prozesse ungeschrieben bleibt.“

(Barbara Skinner Mandellaub*)

Im Jahre siebzig nach der „Befreiung des Deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ (Art. 139 GG) muss man auch an die Nürnberger Prozesse erinnern, die offiziell am 20. November 1945 im Justizpalast der nordbayerischen ehemaligen Reichsparteitagsstadt begannen. (Die Prozesseröffnung fand am 18.10.1945 noch im Plenarsaal des Berliner Kammergerichts, dem letzten Sitz des faschistischen „Volksgerichtshofes“, statt, wurde aber bereits mit Überreichung der Anklageschrift nach einer Stunde vertagt.)

Dort wurden Aufstieg und Fall der Nazimacht am deutlichsten sichtbar: Der Palast stand in einer ansonsten fast vollkommen zerstörten Trümmerstadt früherer Nazitriumphe nahezu unversehrt. 250 JournalistInnen und KriegskorrespondentInnen aus aller Welt, unter ihnen Erika Mann und Erich Kästner, stellten die Öffentlichkeit in diesem „Jahrhundert-Prozess“.

Die Prozesse umfassten – um es gleich vorwegzunehmen – nicht nur den Hauptkriegsverbrecherprozess, der es einem Großteil der deutschen Nachkriegsbevölkerung schon qua seines Namens ermöglichte sich zur Opfergemeinschaft zu stilisieren, sondern auch die zu Unrecht seit ehedem stiefmütterlich behandelten sogenannten Nachfolgeprozesse der Nürnberger Militärtribunale (NMT). Auch wenn sie sich in der verfahrensrechtlichen Grundlage – dort das Statut des Internationalen Militärtribunals (IMT/IMG), hier das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 (Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben) – und nach der Anklage unterschieden – in den Folgeprozessen fungierten die einzelnen Besatzungsmächte jeweils als Ankläger –, sind sie doch in unmittelbarem Zusammenhang zu sehen. Zu diesen zwölf Verfahren, unter ihnen der Ärzte- und Juristenprozess, der Einsatzgruppen- und Wilhelmstraßenprozess (Auswärtiges Amt und SS), nicht zuletzt die Industriellen- oder Wirtschaftsprozesse, sind sicherlich die Dachauer (u. a. Buchenwald- und Malmedy-) Prozesse, der Ravensbrück-Prozess sowie das Rastatter Verfahren gegen den saarländischen Röchling-Konzern hinzuzuzählen.

„… aus dem Schatten des IMT hervorgeholt“

So unbeachtet die Folgeprozesse blieben, insbesondere von denen, die sie angingen, weil sie unter der nachkriegsbedingten Mangelwirtschaft litten, dann, verblendet vom sogenannten Wirtschaftwunder, jede (kollektive) Schuld an den faschistischen Verbrechen zurückweisend, um endlich den Schlussstrich unter Auschwitz ziehen zu können, so spärlich gesät ist auch die Literatur über sie. Insofern ist es tatsächlich als verdienstvoll anzusehen, die Nürnberger Militärtribunale mittels einer Gesamtdarstellung „aus dem Schatten des IMT hervorgeholt“ zu haben.

Erfreuen sich die 42 Blaubände des IMT noch relativer Bekanntheit, nimmt sie im Hinblick auf die Dokumentation des Angriffskrieges durch Nazideutschland (die zehnbändigen „Red Series“) bzw. der 15 grünen Bände der NMT entsprechend ab, was nicht nur editorischen Gründen geschuldet war. Aber tatsächlich existierte lediglich eine unvollständige Urteilssammlung in der DDR bzw. lagern Aktenbestände im Staatsarchiv und wenigen Universitäten (u. a. Bonn und Marburg).

Von den Alliierten vorbereitet und die rechtlichen Grundlagen geschaffen wurden 1943 während der Moskauer oder Drei-Mächte-Konferenz, die am 30. Oktober mit der sogenannten Vier-Nationen-Erklärung vom 1. November 1943 endete, nach der Kriegsverbrecher, deren Taten nicht lokalisiert werden könnten, nach gemeinsamem Beschluss der Alliierten zu bestrafen wären. Die gerichtliche Aburteilung der NS-Führung war bereits gegen das Ansinnen Großbritanniens, Bestrafungen ohne Gerichtsverfahren vorzunehmen, auf der Kriegskonferenz von Jalta im Februar 1945 durchgesetzt worden.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum nachvollziehbar, weshalb auch in der historischen Forschung immer wieder darauf abgehoben wird, dass die Sowjetunion mit den Kriegsverbrechern im wahrsten Sinne kurzen Prozess zu machen gedachte, zumal sie mit die höchsten Opferzahlen in dem faschistischen Vernichtungskrieg zu beklagen hatte. Heute mutet es dagegen als Treppenwitz der Geschichte an, dass es ausgerechnet zunächst die USA waren, die auf einem rechtsstaatlichen und das Völkerrecht achtenden Verfahren bestanden. Es folgte das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, in dem die Ent- bzw. Denazifizierung festgelegt wurde, u. a. die Auflösung aller faschistischen Organisationen, insbesondere der Nazipartei, und die Verhaftung von deren Führungsmitgliedern sowie die Bestrafung der Kriegsverbrecher. Damit kennzeichnete das Abkommen „den verbrecherischen Charakter der faschistischen Organisationen und Institutionen, wie er im Nürnberger Prozess auch juristisch nachgewiesen wurde“ (Erklärung der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer – FIR – zum 70. Jahrestag der Potsdamer Konferenz). Schließlich wurde das Statut des IMG im Rahmen der Londoner Vier-Mächte-Konferenz am 8. August 1945 verabschiedet – bezeichnenderweise fielen zur gleichen Zeit, am 6. bzw. 9. August 1945, die Atombomben der USA auf Hiroshima und Nagasaki.

„Das Recht zum Krieg“ und furchtbare Juristen

Hiernach sollten die Tatbestände „Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges“ (Verbrechen gegen den Frieden), „Verschwörung“ (als gemeinsamer Okkupationsplan und Verabredung zu Verbrechen) sowie „Kriegsverbrechen“ und solchen gegen die Menschlichkeit zur Anklage gebracht werden. Als neuer völkerrechtlicher Straftatbestand war dabei nur der Angriffskrieg auszumachen, um gleich die Hauptkritik der Angeklagten, ihrer Verteidiger, die oftmals selbst Nazis waren, und deren postfaschistische Unterstützer auszuräumen. Aber letztlich greift auch der Einwand des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot nicht durch, weil zumindest nach dem sogenannten Pariser Briand-Kellogg-Kriegs-

ächtungspakt vom 27. April 1928 ein völkergewohnheitsrechtliches Verbot des Angriffskrieges existierte, das nicht dadurch obsolet wird, dass der Völkerbund den Kriegen seitdem nur wenig entgegenzusetzen wusste, wie der Nazijurist Hermann Jahrreiß, Verteidiger des in Nürnberg zum Tode verurteilten und hingerichteten Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtsführungsstabes im „Oberkommando Wehrmacht – OKW“, zu argumentieren suchte. Für einen furchtbaren Juristen, der auch im Nachkriegsdeutschland weiter Karriere machen konnte, eine bemerkenswerte Rechtsauffassung: permanente Verstöße gegen Strafgesetze führten zu deren Aufhebung (vgl. dazu auch: Paech/Stuby, S. 465, 545). Man muss folglich nur oft genug morden, um der Strafbarkeit zu entgehen.

Mord und Völkermord hingegen waren bereits vor Nürnberg nach den jeweiligen nationalstaatlichen Gesetzen strafbar, so auch in Nazideutschland, bzw. völkerrechtlich nach der Haager Landkriegsordnung. Streiten könnte man lediglich über den Vorwurf, eigene Kriegsverbrechen unberücksichtigt gelassen zu haben (sogenannte „Du-auch-Argumentation“; bspw. alliierter Brandkrieg, Massenerschießung in Katyn). Die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes auf völkerrechtlicher Grundlage war allerdings nach den Erfahrungen mit der zuvorkommenden Behandlung deutscher Kriegsverbrecher nach dem Ersten Weltkrieg durch das Reichsgericht (lediglich sechs Verurteilungen deutscher Soldaten niedrigen Ranges) alternativlos. Gleichzeitig entkräftet dies den mit dieser Argumentation mitschwingenden Vorwurf der „Siegerjustiz“. Schließlich sahen sich die Angeklagten überwiegend mit Zivilrichtern konfrontiert. Im Übrigen waren die Gerichtshöfe auch sehr darauf bedacht, Rechtsstaatlichkeit walten zu lassen, und den Grundsätzen eines fairen Verfahrens zu genügen.

Befehlsnot und Kollektivschuld?

Und die ewige Mär vom Befehlsnotstand, des Nazitäters liebstes Verteidigungsargument, wurde oft genug widerlegt (Widerstand, in welcher Form, war überall und zu jeder Zeit möglich – auch ohne Gefahr zu laufen, standrechtlich erschossen zu werden); auch wenn das NMT gerade dem Konzernherren von Flick zugestand, innerhalb einer Wirtschaft, die sich gegenüber dem NS-Staat in einem Verhältnis zwischen Zwang und Gehorsam befunden hätte, lediglich als Befehlsempfänger des bedrängten Unternehmertums gehandelt zu haben.

Wohl auch, um der sogenannten Kollektivschuldthese gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte der Hauptankläger Robert H. Jackson in seiner Eröffnungsrede gleich zu Beginn ausgeführt: „Wir möchten klarstellen, daß wir nicht beabsichtigen, das deutsche Volk zu beschuldigen. Wenn die breite Masse des deutschen Volkes das nationalsozialistische Parteiprogramm willig angenommen hätte, wäre die SA nicht nötig gewesen, und man hätte auch keine Konzentrationslager und keine Gestapo gebraucht.“

Sollten ursprünglich die Führungseliten von 14 als kriminell einzustufenden NS-Organisationen wegen der Verschwörung zum Angriffskrieg angeklagt werden, reduzierten die Ankläger den Kreis aufgrund von Beweisproblemen letztlich auf die Reichsregierung, das „Korps der Politischen Leiter“ der NSDAP, SA, (Waffen-)SS, GeStaPo und SD sowie den Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW); ersichtlich fehlten die Untergliederungen der SS bzw. NSDAP wie das RSHA oder die HJ, was wohl noch Nachkriegsdeutsche in der Bundesrepublik beflügelt haben dürfte, von einem nicht kriminellen Charakter solcher Organisationen auszugehen. Diesen Nachweis musste dann die historische Forschung erbringen. Immerhin wurde der „Reichsjugendführer“ von Schirach in Nürnberg zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.

Von den 24 Funktionseliten aus Politik, Militär und Wirtschaft, die für den Hauptankläger (der Folgeprozesse) Telford Taylor die unheilige „Trinität von Nazismus, Militarismus und wirtschaftlichem Imperialismus“ ergebe, unter ihnen Frank, Göring, Heß, Keitel, von Papen, von Ribbentrop, Rosenberg, Schacht, Speer und Streicher, wurden letztlich zwölf zum Tode verurteilt, Fritsche, Schacht und von Papen wurden freigesprochen, der Rest erhielt zeitliche Freiheitsstrafen. (Ley hatte sich dem Verfahren durch Selbsttötung entzogen so wie Göring seiner Hinrichtung; Bormann wurde offenbar auf der Flucht erschossen und das Verfahren gegen Krupp wurde wegen vorgeblicher Verhandlungsunfähigkeit ausgesetzt.)

Haarsträubend milde Urteile

Auch wenn der Gerichtshof hier wie in den Folgeprozessen eine Organisationsschuld des Generalstabs und OKW nicht zu erkennen vermochte, was die westdeutsche Mehrheitsbevölkerung dankbar als kollektiven Freispruch der Naziwehrmacht auszulegen suchte und dies letztlich erst mithilfe der geschichtswissenschaftlichen Ausstellung „Dimensionen des Vernichtungskrieg(es). Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung um die Jahrtausendwende korrigiert werden konnte, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass aber immerhin die Mitverantwortlichkeit der vermeintlich „sauberen Wehrmacht“ in Komplizenschaft mit den NS-Institutionen bei der Durchführung des Genozids als erwiesen anzusehen war. Die vermeintliche Rechtfertigungsstrategie des sogenannten Befehlnotstandes wurde seitens der Gerichtshöfe ebenso wenig akzeptiert.

Ebenso verhielt es sich mit den Flick- und IG-Farben-Prozessen, deren Urteile als „äußerst, wenn nicht gar übertrieben“ (T. Tayler, zit. nach Axel Drecoll, Der Auftakt der Industriellen-Prozesse: Der Fall 5 gegen die Manager des Flick-Konzerns, in: Priemel u. a., S. 377) bzw. „haarsträubend“ milde „genug, um einen Hühnerdieb zu erfreuen“ angesehen wurden, letztlich „als eine Geschichte juristischen Scheiterns“. Hinsichtlich der Enteignung („Arisierung“) jüdischen Vermögens verstiegen sich die Richter gar zu dem Hinweis, dass Eigentumsdelikte vor Zivilgerichten zu verhandeln wären (vgl. ebd., S. 403). Entsprechend wurde Flick lediglich zu sieben Jahren Haft verurteilt (Steinbrinck zu fünf, Weiss zu zweieinhalb, Burkart, Kaletsch und Terberger wurden freigesprochen) und bereits nach drei Jahren vorzeitig entlassen!

Gekürzter Vorabdruck aus den Mitteilungen der Kommunistischen Plattform vom 7.11.2015.

Der 2. Teil erscheint in der UZ vom 13.11.2015

*Barbara Skinner Mandellaub war ab 1947 Leiterin des Gerichtsarchivs des US-Militärtribunals

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"Ein Jahrhundertprozess", UZ vom 6. November 2015



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