Manchmal reicht ein kleiner Funke. In Chile war es am 19. Oktober 2019 die Erhöhung der Metropreise in Santiago – von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet eine Erhöhung von vier Euro-Cent.
Die Erhöhung wurde zurückgenommen, eine Ausgangssperre – die erste seit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 – wurde verhängt, aber es war zu spät: Die Chileninnen und Chilenen standen auf gegen prekäre Lebensbedingungen, Ausbeutung und Unterdrückung, gegen das neoliberale Experiment, das ihr Land geworden ist.
Anders als 1970 war der Filmemacher Patricio Guzmán (Schlacht um Chile) nicht da, als in Santiago mit den ersten Schülerinnen und Schülern, die über die Absperrungen der Metro hüpften, der Funke auf das ganze Land übersprang. Er trifft ein Jahr später in Santiago ein, die Proteste sind nach wie vor in vollem Gange, weder die Corona-Pandemie noch die unfassbare Brutalität der Repressionsorgane hatte sie stoppen können.
Und so beginnt der Dokumentarfilmer Guzmán seine Arbeit für „Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume“ nicht damit, einen Funken zu filmen und zu erklären, was aus ihm (vielleicht) werden könnte, sondern er filmt ein Land, dass in Flammen steht. Waren es zu Beginn vor allem junge Menschen, die den Kampf gegen die Erhöhung der Metropreise schnell zu einem Kampf für eine besser Zukunft machten, so erfassten die Proteste nicht nur bald das ganze Land, sondern auch alle Ausgebeuteten: Seniorinnen gingen für mehr Rente auf die Straße, Wohnungslose für bezahlbare Mieten, Indigene für Rechte und gesellschaftliche Teilhabe. Und vor allem gingen Frauen jeden Alters auf die Straße, „Diese Bewegung trägt das Gesicht und die Stimme der Frau“, wie es in „Mi País Imaginario“ heißt.
Folgerichtig interviewt Guzmán für seinen Film nur Frauen. Eine junge Aktivistin, deren einziger Wunsch es ist, man möge sich um ihren Sohn kümmern, wenn sie von den Protesten nicht zurückkommt – eine reale Gefahr, Tote und Schwerverletzte sind an der Tagesordnung, die Polizei agiert unerbittlich. Gezielt auch gegen Pressevertreter, berichtet eine junge Fotografin. Ihr war absichtlich mit einem Gummigeschoss ins Gesicht geschossen worden, sie wurde auf einem Auge blind. „Sie wollen nicht, dass wir über das Unrecht das sie begehen, berichten.“ Aufgegeben hat sie nicht. Genau so wenig wie die junge Frau, die sich – so gut wie möglich mit Maske und gepolsterter Kleidung gegen Tränengas und andere Polizeigewalt geschützt – zu jedem Protesttag erneut aufmacht, um als Ersthelferin in einem Sanitätstrupp den Demonstranten beizustehen. Oft müssen ihre Kollegen sie mit Schildern gegen Kugeln abschirmen, während sie Verletzte behandelt. Sie hat Angst, denn sie und ihre Kollegen stehen „gegen Kriegswaffen“.
Voller Begeisterung erzählen eine Journalistin, eine Schriftstellerin, eine Filmemacherin, eine Medizinerin und andere Frauen von dem Gefühlstaumel, der sie ergriff, als das Land endlich aufzustehen schien, und von den Auswirkungen, die dieser Aufstand auf die von Putsch und Konterrevolution zurück an den Herd gedrängten Frauen hatte.
Die Repressionen nahmen zu, Guzmán war mit der Kamera dabei, filmte, wie scheinbar außer Rand und Band geratene Polizisten gezielt Jagd auf einzelne Demonstranten machten, greift aber immer wieder auch zu Drohnenbildern – die schiere Masse derjenigen, die sich der Repression entgegenstellen, berührt.
Schließlich scheint der Sieg über den Neoliberalismus zum Greifen nah: Der Milliardär Sebastián Piñera wird bei Wahlen aus dem Amt gejagt und Guzmán kann filmen, wie im Stadion von Santiago Wahlkabinen stehen für die Abstimmung über den Verfassunggebenden Konvent. An dem Ort, der unter Pinochet ein Konzentrationslager war, in dem Guzmán selbst gefangen gehalten wurde – mit 40.000 anderen Gegnern der Junta.
Guzmán begleitet den Verfassunggebenden Konvent, als er seine Arbeit aufnimmt, befragt eine Schachspielerin, eine Aktivistin der Kommunistischen Jugend und eine Psychologin, alle Mitglieder des Konvents, nach ihren Aufgaben und ihren Ideen für eine neue Verfassung. Aufbruch liegt in der Luft, auch, als der 1986 geborene Gabriel Boric die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden kann. Das Schlimmste, so meint die Schachspielerin, wäre es, wenn beim Plebiszit gegen die neue Verfassung gestimmt würde und die Verfassung der Diktatur weiter bestand hätte.
Mit der Hoffnung, dass die Abstimmung am 4. September vergangene Jahres einen Schlussstrich unter die Verfassung der Diktatur setzen könnte, endet der Film. Es kam anders. 61,87 Prozent der Chileninnen und Chilenen, die ihre Stimme abgaben, stimmten gegen die neue Verfassung.
Die Ursachen sind vielfältig: Boric hatte zwar gut 55 Prozent der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl errungen, aber das rechte und extrem rechte Lager lag gemeinsam nur knapp dahinter. Zudem war auch seine Politik kein Bruch mit dem Neoliberalismus, in der Abstimmung um die Verfassung wurde auch seine Politik abgestraft. Dazu kamen Kampagnen von Seiten der Rechten, die vor allem mit einem Angstszenario von Kriminalität agierten, und Angriffe in den sogenannten sozialen Medien. Was blieb, war ein Land, in dem nun immer noch die Verfassung der Diktatur gültig ist.
Und nun? Das Leben ist in Chile so prekär wie eh und je, die Ausbeutung nicht geringer. Doch auch die schwärzeste Nacht hat nur zwölf Stunden.
Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume
Regie: Patricio Guzmán
Spanisch mit deutschen Untertiteln
Im Kino