Ein Euro ist genug

Ralf Hohmann zur Enteignungsdebatte

In Artikel 15 Grundgesetz heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Eine Bestimmung, die in 70 Jahren kein einziges Mal zur Anwendung kam. Ein merkwürdiges Fossil in einer Verfassungswirklichkeit, die stets dem Mantra „Der Markt wird’s schon richten“ huldigt und sich die Privatisierung der Daseinsvorsorge zum Ziel gesetzt hat. Für Ex-Bundesverfassungsrichter Di Fabio ist Artikel 15 GG eine „vertrocknete Norm“; der freidemokratisch-neoliberale Arzt am Krankenbett des Grundgesetzes Marco Buschmann erblickt in der Sozialisierungsoption ein krankhaftes Gebilde, das per Notoperation dringend entfernt werden muss: Wie ein „Blinddarm, nutzlos und im Zweifel ein Entzündungsherd, der Schaden anrichtet“.
Doch die Entzündung schwelt bereits. Kein namhafter Verfassungsrechtler, keine renommierte Anwaltskanzlei auf dem Gebiet der Grundgesetzinterpretation, die in den vergangenen Monaten nicht ein Gutachten zu der Vergesellschaftung von Wohnraum erstellt hätten. Berliner Senat, Bundestag, Parteien, Mieterorganisationen und Immobilienhaie kämpfen mit inzwischen etwa 20 Expertisen um die Deutungshoheit. Dornröschen ist wachgeküsst und Art. 15 GG beflügelt sie alle. Einig sind sich jedenfalls die Rechtsgelehrten darin, dass Artikel 15 GG den Weg zu einer Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen freigibt. Strittig ist allein der Preis, den die öffentliche Hand, sprich der Steuerzahler, dafür zu berappen hat. Gerechnet auf Berlin reicht die Spanne von 7,3 Milliarden Euro (Initiative Deutsche Wohnen Enteignen) über 25 Milliarden Euro (Berlin-Brandenburgische Wohnungsunternehmen, BBU) bis 36 Milliarden Euro (Berliner Senatsverwaltung), was dem Verkehrswert der Immobilien entspricht. Auch Prof. Joachim Wieland, der für die Fraktion „Die Linke“ begutachtet hat, sieht keinen Weg ohne Entschädigung – jedoch müsse diese nicht „notwendig“ am Verkehrswert orientiert sein, dürfe diesen aber auch nicht vernachlässigen.
Außer Acht gelassen wird von allen ein Kapitel deutscher Geschichte. Mit der Entschädigung von einem symbolischen Euro wäre dem Gesetz auch Genüge getan. Der Abverkauf von DDR-Betrieben durch die Treuhand hat bewiesen, dass der Preis nicht höher sein muss.

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"Ein Euro ist genug", UZ vom 6. Dezember 2019



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