Der Bezirksleiter der IG Metall NRW, Kurt Giesler, hatte sich im Interview mit der „WirtschaftsWoche“ für eine Reallohnsteigerung in der kommenden Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie ausgesprochen: „Die absolute Untergrenze für einen Abschluss ist für uns eine Reallohnsicherung mit einem Aufschlag. Am Ende des Jahres müssen unsere Kolleginnen und Kollegen preisbereinigt mehr im Portemonnaie haben als vorher.“ Giesler verwies auf die „Lohnzurückhaltung“ der Gewerkschaft in den letzten Jahren: „Die letzte tabellenwirksame Erhöhung der Monatsentgelte in der Metall- und Elektroindustrie gab es 2018. Jetzt ist es Zeit für eine ordentliche Erhöhung – zumal die Wirtschaft ja nicht so stark eingebrochen ist, wie von vielen Experten befürchtet.“
Eine zutreffende Feststellung. Allerdings ist die offizielle Inflationsrate für Mai 2022 bei 7,4 Prozent angekommen. Real liegen die Preissteigerungen für viele Menschen sogar noch darüber, weil die Anteile für Miete, Heizkosten, Benzin und Lebensmittel im „Warenkorb“ des Statistischen Bundesamtes unrealistisch niedrig angesetzt sind. Mit Hilfe dieses „Warenkorbs“ wird die offizielle Inflationsrate berechnet.
Miete, Energie und Lebensmittel sind jedoch die größten Preistreiber. Und es gibt keine Anzeichen, dass sich der Trend zu Preissteigerungen hier im Verlauf des Jahres abschwächen oder umkehren wird – vor allem dann nicht, wenn die Bundesregierung bei ihrem selbstmörderischen Sanktionskurs gegen Russland bleibt. Dann könnten im Herbst Energiepreise Wirklichkeit werden, die alle bisherigen Tarifverhandlungs-Parameter auf den Kopf stellen.
Die deutsche Metall- und Elektroindustrie ist in hohem Maße exportorientiert und nicht zuletzt wegen der massiven staatlichen Unterstützung weiterhin konkurrenzfähig. Trotz Lieferproblemen und Ukrainekrieg: Die Exporte der Maschinenbauer, Flugzeug- und Kfz-Hersteller sowie der Elektroindustrie sind in den ersten vier Monaten des Jahres auf 207,7 Mrd. Euro gestiegen – von 203,5 Mrd. Euro im Vorjahreszeitraum. Die Branche kann natürlich vernünftige Löhne zahlen. Der Lohnverzicht der Beschäftigten in Zeiten der „Coronakrise“ hat die Profite erhöht und die Aktionäre reicher gemacht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben dafür einen Reallohnverlust hinnehmen müssen.
Wie nicht anders zu erwarten, haben das Kapital, die Bundesregierung und die kapitalorientierte Wirtschafts„wissenschaft“ das alte Märchen von der Lohn-Preis-Spirale reanimiert. Für sie sind Lohnerhöhungen immer mit dem Untergang des Abendlandes verbunden. Fehlen darf auch nicht der Hinweis, dass der Mindestlohn auf 12 Euro angehoben wird. Die IG Bau hat eine Studie präsentiert, nach der der 12 Euro-Mindestlohn einen Kaufkraftzuwachs von 9,8 Mrd. Euro pro Jahr bedeutet. Das sind bei einer volkswirtschaftlichen Gehalts- und Lohnsumme von 2.250 Mrd. Euro satte 0,4 Prozent. Selbst wenn man annimmt, dass dieser Kaufkrafteffekt in dieser Höhe eintritt, wird doch kaum jemand seriöserweise annehmen, dass von so einer Marginalie irgendein Preiseffekt ausgehen kann.
Lieber wäre den Damen und Herren aus Kapital, Regierung und „Wissenschaft“ dagegen eine Preis-Preis-Spirale – höhere Preise wegen höherer Preise. Die 7,4 Prozent Inflation sind ja erkennbar völlig ohne Zutun der Arbeiterinnen und Arbeiter entstanden, sie sind ein Ergebnis der „Preissetzungsmacht des freien Unternehmers“. Und dabei soll es auch bleiben. Die Preise und Profite sollen steigen, die Löhne natürlich nicht. Um diesen einfachen Sachverhalt zu „begründen“, sind ganze Heerscharen von „Wissenschaftlern“ und Schreiberlingen angestellt.
Die Kolleginnen und Kollegen haben diese 7,4 Prozent in diesem Jahr – und mehr in den vier Jahren zuvor – real schon verloren. Sie können nur versuchen, die Reallohnverluste in der Zukunft zu begrenzen beziehungsweise, wenn es gut läuft, einige Verluste wieder wettzumachen. Letzteres dürfte allerdings ein ambitioniertes Unterfangen werden.
Ganz generell macht es wenig Sinn, sich die „Sorgen“ der Kapitalseite zu eigen zu machen. Genauso wie sich die Kapitalvertreter keine Sorgen machen, wie die Arbeiter ihre massiv steigenden Rechnungen begleichen sollen – Tarifkämpfe sind eben Verteilungskämpfe. Sie sind Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Und das ist in den letzten Jahrzehnten gezielt zu Lasten der arbeitenden Menschen verändert worden. Die IG Metall hat keinen „Tarifpartner“, sondern einen gut organisierten und erfahrenen Gegner plus die vereinigten Massenmedien gegen sich. Es wird nicht leicht werden.