Die Lektüre lohnt, dies sei der Besprechung ausdrücklich vorangestellt, handelt es sich doch um ein Buch von höchster Aktualität und zugleich von besonderer Art, das Ulrich Sander den bisher von ihm verfassten oder herausgegebenen Publikationen folgen ließ.[1] Wer des Verfassers unermüdliche und konsequente antifaschistische Tätigkeit kennt, wird weder vom Thema noch von den eindeutigen Fragestellungen und Aussagen überrascht sein. Diese gelten jener unrühmlichen Wiedergutmachungs- und Erinnerungspolitik, die in Bundesdeutschland regierungsoffiziell betrieben worden ist und betrieben wird. 55 Jahre mussten vergehen, bevor die Zwangsarbeit – nach Schätzungen geleistet von etwa 20 Millionen Menschen – als nationalsozialistisches Unrecht offiziell in einem Gesetz anerkannt wurde.
Soeben, im Jahr 2015, war zu erleben, wie mühselig gekämpft werden musste, um die juristische Klausel „Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungsberechtigung“ unwirksam werden zu lassen und die wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen entschädigen zu können. Ebenso mühselig war es auch am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen, eine Entschädigung für die ausländischen Zwangsarbeiter zu erreichen. Bei deren Versklavung und menschenunwürdiger Ausbeutung hatte es sich um eines der schwersten Verbrechen deutscher Faschisten gegen die Menschheit gehandelt, doch Politik und Wirtschaft wollten sich ihrer Verantwortung entziehen. Erst erheblicher Druck schuf rund 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Veränderungswillen. Der ungewisse Ausgang zahlreicher Sammelklagen auf Entschädigung, die von ehemaligen Zwangsarbeitern in den USA eingereicht worden waren, sowie die in Deutschland aufflammende politische Diskussion führten im Jahre 2000 zur Gründung der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Für diese sollten mehrere Milliarden DM aufgebracht werden, zu gleichen Teilen von Industrie und Bund; allerdings wären die Unternehmer – wie Thomas Kuczynski berechnete – zum Zahlen des Achtzehnfachen verpflichtet gewesen. Unter der Voraussetzung, dass alle Klagen vollständig zurückgenommen werden, durften schließlich ehemalige Zwangsarbeiter in fünf osteuropäischen Staaten sowie in Israel und in den USA Anträge auf Entschädigung stellen. Nicht nur die den Deutschen zugesprochene besondere Gründlichkeit verlangte dafür erheblichen bürokratischen Aufwand und vielerlei Recherchen: Antragsteller hatten Nachweise vorzulegen, die zu beschaffen unheimlich viel Aufwand erforderte, Listen mussten erarbeitet und Betriebe ausfindig gemacht werden, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, usw. usf.
Das alles bietet den geschichtlichen Hintergrund des hier vorzustellenden Buches. Sein Verfasser wirkte, beginnend am 2. Mai 2000 und endend im November 2001, als Nutzer einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Erforschung der Zwangsarbeit in der südwestfälischen Stadt Lüdenscheid – dies trotz mancher Widerstände[2] erfolgreich. In Form eines Tagebuches beschreibt er die eigene Tätigkeit, seinen Einzug ins Rathaus, seine Ansprech- und Verhandlungspartner, seine Schritt für Schritt vorgelegten Ergebnisse. Am Ende lagen 7 462 Kurzbiografien von Zwangsarbeitern in Lüdenscheid und Umgebung vor, die in Datenbanken zusammengefasst zudem diverse statistische Analysen erlauben. Nicht ohne berechtigten Stolz darf Sander am Ende schreiben, dass nur wenige deutsche Städte über eine aus den vorhandenen Quellen erarbeitete Materialsammlung verfügen (S. 210).[3] Vermutlich konnten auf der Grundlage der Lüdenscheider Recherchen etwa 1 500 Überlebende eine Entschädigung erhalten.
Mehrere Darstellungsstränge des Bandes sind ineinander verwoben, ebenso aufschlussreich wie kunstvoll. Pars pro toto – ein Teil anstelle einer Gesamtheit von Vorgängen: Diesem Motto folgt Sander geradlinig und konsequent. Eine der roten Linien seiner Darstellung gilt den Eintragungen in ein Tagebuch. Hier wird akribisch erfasst, was wann und wie zu tun erforderlich gewesen und was jeweils erreicht worden ist. Da erscheinen mitunter Details, die sonst kaum Eingang in historische Darstellungen finden, die jedoch alltägliche Mühen und kleingeistige Querelen drastisch erhellen. Eingebettet in die Tagesberichte tauchen Briefe, Ausschnitte aus Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten auf. Das verleiht der Darstellung über weite Strecken dokumentarischen Charakter. Beschrieben werden ebenso Zustände und Verbrechen in einigen Arbeits- und anderen Lagern, gestützt vor allem auf die Publikationen von Gabriele Lotfi und anderer Autoren.[4] Eingestreut sind auch bemerkenswerte Ausführungen zu den Schicksalswegen einzelner Zwangsarbeiter, zu denen jedoch der titelgebende, aber eher symbolisch angeführte „Iwan“ nicht gehört.[5] Längere Untersuchungen sehen sich dem spurlosen Verschwinden von 118 montenegrinischen Zwangsarbeitern gewidmet, das offensichtlich zu jenen mörderischen, von NSDAP-Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann in den letzten Kriegswochen angeordneten Verbrechen gehört. Die Agonie der Naziherrschaft sah sich drakonisch ergänzt durch einen opferreichen Durchhalte-Terrorismus. Mit diesem sollte weniger der propagierte „Endsieg“ gewährleistet werden, eher ging es um das Verwischen von Spuren sowie um Versuche, das Überleben von ausbeutungsgierigen Großindustriellen und führenden Nazis in den erwarteten Kämpfen befreiter Zwangsarbeiter zu sichern.
Immer wieder finden sich in die Tagebuchnotizen eingestreute allgemeine Betrachtungen. Sie entstammen zumeist den in jener Zeit gehaltenen Vorträgen oder publizierten Artikeln des Verfassers. Darin setzt sich Sander ständig mit den unterschiedlichsten, zum Teil auch unsinnigen „Argumenten“ auseinander, denen zufolge es überflüssig oder gar falsch wäre, Entschädigungen zu zahlen. Erhellt wird vor allem Inhalt und Charakter der Forderung, dass endlich ein „Schlussstrich“ gezogen werden müsse.
In seinem Nachwort mit dem Titel „Zehn Jahre danach: Keine Anklage gegen die Quandts und Co.“ berichtet der Verfasser von den leider erfolglosen Bemühungen, eine Mahntafel an einem Gebäude anzubringen, das früher der Familie Quandt gehörte. Damit sollte auf die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen im Dritten Reich bzw. im Zweiten Weltkrieg hingewiesen werden. Ferner wird ausführlich ein Vortrag referiert, den Thomas Kuczynski am 8. Mai 2011 im Rückblick auf die Entschädigungsdebatte gehalten hat. Das Resümé: „Ablass zu Ausverkaufspreisen“ …
Ulrich Sander, Journalist und Bundessprecher der VVN-BdA, versteht seine Recherchen als „kleinen Ausschnitt aus einer leider noch nicht geschriebenen großen Anklageschrift gegen die Täter“ und fühlt sich dem bekannten Schwur der befreiten KZ-Häftlinge von Buchenwald verpflichtet, die den Kampf erst einstellen wollten, „wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht“ (S. 17). Folgerichtig lautet der letzte Satz des lesenswerten Buches: „Das Ringen um Gerechtigkeit geht weiter.“ (S. 237) Die Schlussfolgerung, die er aus dem beschämenden Verhalten deutscher Großunternehmer in den Auseinandersetzungen um die Entschädigung der Zwangsarbeiter zieht und seiner Publikation gleichsam voranstellt, lautet: Ohne Wirtschaftsdemokratie wird es auf die Dauer keine Demokratie mehr geben, wie es auch „ohne die Einschränkung von Rüstungskonzernen und Rüstungsexporten“ keinen Frieden geben könne (S. 13).
Vorabdruck aus Marxistische Blätter 5_2015 (erscheint im September)
Ulrich Sander: Der Iwan kam bis Lüdenscheid. Protokoll einer Recherche zur Zwangsarbeit.
PapyRossa Verlag Köln 2015, 237 S. ISBN 978–3-89438–582-8
1 Die Macht im Hintergrund. Militär und Politik in Deutschland von Seeckt bis Struck, (Köln 2004); Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende (2008); Von Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945 (2012).
2 Um den Auftrag an Sander rankte sich ein Verfassungsschutzskandal, dem der Leiter des Lüdenscheider Stadtarchivs, Dieter Saal, Beeinträchtigungen in seiner Berufsbiografie zu verdanken hatte.
3 Im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Befreiung entstanden in anderen Städten und Regionen mehrere Arbeiten, die in unterschiedlichster Weise auch das Thema Zwangsarbeit berühren. Zu verweisen wäre u. a. auf Marc Bartuschka (Hg.): Nationalsozialistische Lager und ihre Nachgeschichte in der Stadtregion Jena. Antisemitische Kommunalpolitik – Zwangsarbeit – Todesmärsche, Jena 2015; Dieter Rosowski (Hrsg.): Lausitzer Almanach. Sonderausgabe II zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus: Das Kriegsende in Ostsachsen (Berichte, Erinnerungen, Gedanken), Kamenz 2015.
4 Gabriele Lotfi: KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, München 2000; Ulrich Herbert: Fremdarbeiter – Politik und Praxis des „Ausländereinsatzes in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999; Winkler, Ulrike (Hrsg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln 2000; Thomas Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch, Berlin 2004.
5 In Anlehnung an das Buch von Richard David Precht „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ verzichtet der Vf. auf das Wörtchen „nur“ und erklärt: „Die Iwans aus dem Lande Lenins kamen nicht nur bis Lüdenscheid, sie kamen bis in jedes deutsche Dorf […] Keiner kam je als Eroberer – so wie die Fritzen als Eroberer und Unterdrücker und als Mörder in ihr Land kamen.“ (S. 233)