Am Samstag begeht Egon Krenz seinen 85. Geburtstag. Wieder wird die Schar der Gratulanten groß sein: Freunde und Genossen, Weggefährten aus der DDR-Geschichte, die heute gemeinsam mit ihm gegen die Delegitimierung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden kämpfen. Aber auch faire Zeitbetrachter in Ost und West, die ihm ideologisch kaum nahestehen, indes seinen Beitrag zur Friedenswahrung in den Wirren des bundesdeutschen Vereinnahmungsszenarios, Tagen höchster Brandgefahr, als eine Entscheidung von historischer Tragweite anerkennen. Was ihm eine Phalanx aus kleingeistigen Regierungsmündern, antikommunistischer Dissidenz und bundesamtlich geprüfter Bürgerrechtlerei abzusprechen versucht, wurde ihm im Laufe der Zeit von einer immer größer werdenden Öffentlichkeit attestiert: Aufrichtigkeit. Seine Zeitzeugenschaft in den Debatten der Gegenwart – in Medien, auf Foren oder zwischen Buchdeckel gebunden – ist von politischer Geradlinigkeit, geschichtlicher Präzision, dokumentarischer Unbestechlichkeit. Er hasst die im Politikbetrieb so wohlfeile Schminke von Selbstverklärung und biografischer Verpuppung. Seine Selbstkritik hält sich fern von politischer Anbiederei. 85 Jahre – eine Vita, in der sich Aufbrüche und Brüche der deutschen Nachkriegszeit markant spiegeln.
Im heute polnischen Kolberg geboren, in der späteren DDR sesshaft geworden, mit Pionierhalstuch und Blauhemd in die Aufbaujahre gekommen, stand er nach diversen Lehrzeiten an der Spitze der Pionierorganisation, später der Freien Deutschen Jugend. Ins Politbüro des ZK der SED gewählt, suchte er Wege aus dogmatischer Erstarrung in eine neue Lebendigkeit der Partei. Als SED-Generalsekretär und Vorsitzender des Staatsrates war er bestrebt, den Bestand der Partei und die sozialistischen Grundlagen der DDR zu erhalten. Er und wir alle, die ihm damals nahestanden, waren nicht frei von Irrtümern und Fehlern. So teilten wir auch die Verzweiflung über die Niederlage. Der Adler machte Beute und eine „Siegerjustiz“ arbeitete sich mit Vorliebe an Egon Krenz ab. Eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verbüßte er hinter Gittern, später im offenen Vollzug, schließlich zur „Bewährung“. Aber was sollte das sein, wenn er doch an dem, was ihm der rachsüchtige Justizapparat anlastete, keine Schuld trug, und das, was er sich selbst vorwarf, nicht justiziabel war? „Bewähren“ konnte nur der selbst auferlegte moralische Kodex des Weiterlebens sein, der kritischen Besinnung und der Selbstachtung im Verfolg nicht verfallender Ideale. Besonders traf ihn der Rausschmiss aus seiner Partei, deren Führung das notwendige Ausfegen von Missständen und Verkrustungen in die Entsorgung lästiger Biografien ausufern ließ. Egon Krenz gab sein Parteibuch nicht ab und so ist die häufig gestellte Frage, ob er etwa ausgetreten sei, beantwortet. Ein bequemes palmenumranktes Exil, zu dem ihm manche rieten, lehnte er so brüsk ab wie jedweden ideologischen Verrat für gerichtliche Milde. Zum geraden Rücken gehörte für ihn, Verantwortung zu übernehmen und die zweifache Demütigung zu ertragen.
Ich erinnere mich an eine Episode aus der Kahlschlagzeit der treulosen „Treuhand“. Egon und ich waren auf der Fahrt zu einer Veranstaltung in Süddeutschland und kehrten unterwegs in einer sächsischen Autobahnraststätte ein. Vom Nebentisch, besetzt mit Arbeitern, kamen kritische Wortpfeile in Egons Richtung geflogen. Voller Frust über ihre inzwischen schlechtere Lebenssituation. Der Ausgang lag nicht in dieser Richtung, aber Egon ging an jenen Tisch. „Wer von euch ist arbeitslos?“ Die Hälfte der Hände meldete sich. „Wer hat einen Arbeitslosen in der Familie?“ Alle hatten nun die Hand gehoben. „Wer davon war zu DDR-Zeiten arbeitslos?“ Alle Hände blieben unten und griffen zum Bier. Dann sagte einer: Prost Egon! Das sage ich jetzt auch und genieße die Kraft und die Dauerhaftigkeit unseres schönen FDJ-Grußes: FREUNDSCHAFT!