Zu Brigitte Reimanns Roman „Die Denunziantin“

Ein Blick in die frühe Geschichte der DDR

Der bisher nie vollständig veröffentlichte erste Roman Brigitte Reimanns, „Die Denunziantin“ liegt nun als Aufsehen erregende Publikation vor, herausgegeben von Kristina Stella und mit einem umfangreichen Anhang versehen. Der Roman, entstanden nach persönlichen Erfahrungen auf der Oberschule und begonnen gleich nach dem Abitur, also autobiografisch geprägt wie vieles in Reimanns Schaffen, hatte eine teils verworrene Entstehungsgeschichte von 1952 bis 1956. Es entstanden vier voneinander abweichende und teils unvollendete Fassungen. Sie stießen auf heute schwer verständlichen, fortwährenden Widerstand, der in Zurückweisungen, Absagen und endlich auf den Verzicht der Autorin auf weitere Arbeit an dem Werk gipfelte. Die Kritik allerdings richtete sich nicht – auch wenn es so aussah – gegen politisch kritikwürdige, sondern gegen linke Positionen, wie sie die Protagonistin, die junge Eva Hennig, gegenüber dem reaktionären Lehrer Sehning vertritt und siegt, „weil auf ihrer Seite das Recht war und der Glaube und die unermessliche Kraft der Jugend und der Wahrheit“. Dieser Sieg wurde nicht mit politischen Argumenten errungen, sondern mit literarischer Leidenschaft und dem nachdrücklichen Einsatz der jugendlichen Regisseurin und einer Laienspielgruppe, die an die Stelle der Politik das argumentative Laienspiel setzten und mit Kunst politische Interessen vertraten.

Darin lag das Problem des Werks: Nicht zielstrebiger politischer Kampf führte zur geschichtlich notwendigen Einsicht – dazu war die von Leidenschaften fast gepeinigte Schriftstellerin wohl auch nicht fähig – und einer zugehörigen Haltung und Handlung bei den Oberschülern, sondern die emotionale Wirkung der Aufführung des Laienspiels von Peter Nell „Die Eysenhardts: der Weg einer Frau“ (1950) in der Regie von Eva Hennig, der Brigitte Reimann so ähnlichen weiblichen Hauptgestalt des Romans. Das Stück, spielend zu Beginn der faschistischen Herrschaft 1933/34 in einer deutschen Stadt, folgt der Entwicklung einer anfangs ängstlichen Zeitgenossin bis zur „starken, tapferen“ Frau, „die ihren Weg erkannt hatte und furchtlos beschritt“. Nach dem Tod ihres Mannes in einem KZ übernimmt sie die Verpflichtung, „das Werk der Toten fortzuführen“.

Der Roman wurde am 28. Oktober 2022, siebzig Jahre nach dem Beginn der Arbeit, in seiner Urfassung veröffentlicht. Die Vorgänge um den Roman, aber auch in ihm, sind nicht einfach zugänglich. Um sie begreifen zu können, ist ein Blick auf die junge DDR um 1952 zu werfen. Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Zeit der antifaschistisch-demokratischen Ordnung; sie stand bis zum IV. Parteitag der SED 1954 im Zeichen der deutschen Einheit. Eine Betonung sozialistischer Ziele geschah zurückhaltend, dafür wurden Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West betont: Die Mehrzahl der Deutschen war dem Faschismus begeistert gefolgt und empfand das Kriegsende als Niederlage, nicht als Befreiung. Erst auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 – die verlegerischen Bemühungen um Brigitte Reimanns Roman waren 1957 abgeschlossen worden, sie selbst verlor alle Lust daran und sah in dem Roman Jugendideale, die sie „abgestreift“ habe – stellte Walter Ulbricht fest, dass „viele Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die früher an den Westen geglaubt haben, davon kuriert sind“, und verstand das wohl eher als Hoffnung, weniger als Tatsache. Mit dem Roman korrespondiert Ulbrichts Bemerkung in diesem Zusammenhang, dass der Widerspruch zwischen überkommener Denkweise und dem neuen Leben „besonders stark wurde … an den Schulen und Oberschulen“. Die Folge sei gewesen, „dass ein Teil des Nachwuchses aus der Arbeiterklasse an Oberschulen und Hochschulen mit reaktionären Ideologien verseucht wurde“.

Unter diesem Aspekt erweisen sich die Gründe für die Weigerung der Verlage, die heute schwer verständlich sind, durchaus nachvollziehbar. Für die Verlage war der Roman fordernder, auch im Angesicht der noch offenen Grenzen, als sie es vertreten konnten oder wollten; die Autorin und ihr Roman erschien ihnen entschiedener sozialistisch, als sie es ihrem Publikum zuzumuten wagten.

Eine weitere Ergänzung erweist sich als notwendig. Es wird im Nachwort betont, dass das von Reimann Geschriebene nicht der „sich gerade formierenden DDR-Literatur, ‚positive Helden‘ in den Mittelpunkt zu stellen“, entsprochen habe. Die Herrschaft des sozialistischen Realismus wird unterstellt. Das war jedoch keineswegs eindeutig. Neben die Vorstellung des sozialistischen Realismus durch sowjetische Kulturoffiziere in der „Täglichen Rundschau“ und der „Neuen Welt“ – Presseorgane der SMAD (Sowjetische Militäradministration), die nach 1945 bis um 1950 meinungsbildend wirkten – stellten sie gleichberechtigt andere ästhetische Möglichkeiten und verwiesen auf kritisch-realistische Traditionen. Sie waren dabei oft geschmeidiger als ihre deutschen Partner und ließen kein isoliertes Bild einer sozialistisch-realistischen Literatur entstehen. Von Einseitigkeit, Beschränkung oder Ausschließlichkeit sozialistisch-realistischer Dichtung war wenig zu spüren; entsprechende Forderungen waren vereinzelt, mehr von deutschen Autoren als von sowjetischen, und setzten sich nur überschaubar durch. Auch Schriftsteller, die in dieser Zeit Einfluss auf die Reimann hatten und denen gegenüber sie sich berichtspflichtig meinte, wie Otto Bernhard Wendler (1895 – 1958) und Wolf D. Brennecke (1922 – 2002), hatten nichts mit dem sozialistischen Realismus zu tun. Wie die Diskussionen verliefen, ist im Buch ansatzweise in den Gesprächsrunden der Oberschüler, „einer Art Literaturzirkel“, zu verfolgen: Seine Mitglieder zeichnete „die umfassende Kenntnis von Werken aus allen Zeiten der Literaturgeschichte“ aus.

Liest man „Die Denunziantin“ heute, wird der Roman weniger durch die literarische Qualität der bei Beginn der Arbeit 19-jährigen Brigitte Reimann auffällig, die gerade das Abitur hinter sich hatte. Sprachlich ist er zwiespältig. Figurencharakteristiken sind meist auf Versatzstücke – die „schwarzen Augen“ der Protagonistin – reduziert und eine Anleihe bei der durch Farbe und Form auffallenden Augen der Schriftstellerin. Triviales häuft sich nebenbei auch. Der Leser hat teils Mühe, den wenig motivierten Handlungen zu folgen. Die Aufzählung von Mängeln ließe sich weiterführen, trotzdem ist der Roman ohne Übertreibung eine Sensation, vor allem für das wenig ausgeprägte oder kaum vorhandene Verständnis der Nachkriegsverhältnisse in der Stalinzeit und für die frühe Zeit der DDR. Als Sensation taugt er heute noch.

Die vor dem Abitur stehende FDJ-Funktionärin, die 17-jährige Eva Hennig, die in Aussehen und Auftreten ebenso wie im gefühlsmäßigen Überschwang wesentliche Züge der Autorin trägt, begehrt gegen den alten, von den Schülern fast uneingeschränkt verehrten Deutsch- und Englischlehrer, Studienrat Sehning, auf, weil dieser dem antifaschistischen Widerstandskampf, in dem Evas Vater hingerichtet wurde, Wirkung und Bedeutung abspricht und insgesamt einen verhängnisvollen Einfluss auf die meisten Schüler ausübt. Er steigert sich bis zur Verurteilung, diesen Kampf „einiger Fanatiker“ als „sinnloses Blutvergießen“ und „unnütze Opfer der Antifaschisten“ abzutun. Evas sogenannte Denunziation bleibt ohne Auswirkungen: Studienrat Sehning wird von Schülern und Prüfungskommission entlastet. Als er erneut reaktionär argumentiert, stellt sich Evas Klasse, nunmehr durch das von Eva inszenierte Laienspiel vom Antifaschismus überzeugt, gegen ihn. Nach der Aufführung und den veränderten Ansichten in der Klasse flieht Studienrat Sehning in den Westen.

Evas Einsatz für die Laienspieltruppe verdeutlicht, welche Bedeutung in dem jungen Staat die ästhetische Erziehung hatte, ein frühes Zeichen dafür, welche überragende Bedeutung die Literatur in der Gesellschaft bekam, was auch zur besonderen Aufmerksamkeit der politischen Repräsentanten für die Literatur führte. Eva nutzt letztlich das ästhetisch geprägte Erziehungsprogramm seit der Aufklärung – es lässt sich an Lessings Erziehung des Menschengeschlechts denken – und ergänzt es durch aktuelle Namen: Der tschechische Literaturwissenschaftler Paul (Pawel) Reiman(n) (1902 – 1976) schuf kurze Zeit später mit seinen „Hauptströmungen der deutschen Literatur 1750 – 1848“ (1956) eine Art Hausbuch für die Traditionen einer sozialistischen deutschen Literatur.

Das Verhalten der Mehrzahl der Schüler, ihre Unterstützung des Lehrers und ihre Distanz zu Eva, entspricht den damaligen politischen Verhältnissen. In einem mühevollen und langwierigen Überzeugungsprozess gelang es der Staats- und Parteiführung in der jungen DDR, bei Bevölkerungsteilen Zustimmung zu erwerben, aber längst nicht in dem Maße, wie sie gewünscht war und notwendig gewesen wäre. Offiziell aber ging die Propaganda von einer vollständigen Zustimmung und Unterstützung aus. Auf diesen gravierenden Widerspruch hatten zwischen 1945 und 1949/50 schon sowjetische Kulturoffiziere – Fradkin, Weiss, sogar Dymschitz – nachdrücklich und differenziert hingewiesen; sie verwiesen auf die bereits länger wirkenden Traditionen und Haltungen, abgeleitet aus Klassik und vor allem dem kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts, die für die politische Argumentation in beiden deutschen Staaten genutzt werden sollten und zudem Traditionen von Russen und Deutschen bildeten. Nachdem diese Kulturoffiziere abkommandiert worden waren und teils leidvolle Schicksale zu ertragen hatten, fielen diese Warner und Ratgeber aus und die gewünschte Zustimmung zu der offiziellen Politik wurde postuliert und praktiziert.

Brigitte Reimann: Die Denunziantin
Hrsg. und mit einem Anhang zur Editionsgeschichte von Kristina Stella
Illustrationen von Jens Lay
Bielefeld: Aisthesis Verlag 2022, 378 S., 24,– Euro

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"Ein Blick in die frühe Geschichte der DDR", UZ vom 6. Januar 2023



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