Wie die Bundeswehr mit Minderjährigen ihre Rekrutierungslücken stopft

„Ein bisschen Abenteuerspielplatz“

Chris Hüppmeier

Ob USA, Britannien, Belgien oder auch die Bundesrepublik Deutschland: Insgesamt 24 NATO-Länder rekrutieren Minderjährige systematisch und in großen Zahlen in ihre bewaffneten Streitkräfte. Weltweit 151 Länder tun dies nicht und halten sich damit an die Vorgaben des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, der dies seit den 2000er Jahren anmahnt und seiner Forderung mit dem „Straight-18-Standard“ einen Namen gibt. Mit den Pariser Prinzipien von 2007 geben die Vereinten Nationen diesem Umstand auch eine Definition: Wenn Minderjährige in bewaffneten Armeen arbeiten und mitwirken, handelt es sich um Kindersoldaten.

In Deutschland setzt sich seit Jahren das Bündnis „Unter 18 nie – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“ aus Gewerkschaften, Kirchen und Friedensbewegung dafür ein, dass dieser „Straight-18“-Standard auch hierzulande durchgesetzt wird. Denn für die BRD war die Zustimmung zu den Pariser Prinzipien bisher kein Hindernis, um unter Minderjährigen für den Einsatz in der Bundeswehr zu werben. Im Gegenteil: Seit dem Jahr 2014 werden jährlich im Durchschnitt 1.700 Minderjährige rekrutiert, zuletzt mit einem Allzeithoch von rund 2.000 Unter-18-Jährigen im Jahr 2023. Tendenz steigend, wie „Unter 18 nie!“ auf seiner Internetseite eindrücklich darstellt.

Die meist 17-jährigen Soldaten erhalten bei der Bundeswehr dasselbe militärische Training wie Erwachsene und werden häufig mit diesen zusammen untergebracht. Dabei werden gesetzliche Jugendschutzbestimmungen und das Jugendarbeitsschutzgesetz nicht eingehalten, moniert das Bündnis auf seiner Internetpräsenz. Die einzigen Ausnahmen: Minderjährige werden nicht vor ihrer Volljährigkeit in Auslandseinsätze geschickt und üben keinen bewaffneten Wachdienst aus. Und doch sind sie hohen Risiken ausgesetzt. Laut Daten aus der Bundeswehr selbst und den Berichten der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) sind Jugendliche in der Bundeswehr häufig Opfer von sexueller Gewalt, erniedrigender Behandlung sowie von körperlichen und seelischen Belastungen. Bei der letzten Erhebung 2023 gab es allein 15 solcher Verdachtsfälle. Darunter auch drei Suizidfälle. Bei zwei davon blieb es glücklicherweise beim Versuch.

Das alles kommt nicht von ungefähr: Sexualisierte Aufnahmerituale wie das erzwungene Tanzen an einer Stange sowie Vorfälle von Missbrauch und Vergewaltigung sind offiziell in Berichten dokumentiert. Die Bundeswehr gibt jedoch keine Auskunft darüber, wie viele der Betroffenen minderjährig waren. Die schweren Verletzungen durch Drillmaßnahmen erscheinen dagegen nur marginal, obwohl sie im genannten Zeitraum nachweislich einen Todesfall bei einem jungen Rekruten zur Folge hatten. Die Verhältnisse in der Bundeswehr, die als Nachfolgearmee der Wehrmacht bis heute von rechtsextremen Strukturen durchsetzt ist, lassen wenig Besserung erwarten.

Warum lassen sich gerade Jugendliche für die Bundeswehr begeistern? Ihre Antworten auf diese Frage geben Hinweise auf die Rekrutierungsmethoden. „Ein bisschen Abenteuerspielplatz erleben“, dachte sich Sebastian, damals 16 Jahre alt und kurz vor dem Schulabschluss. In einem Interview mit dem Bündnis „Unter 18 nie!“ berichtete er, wie er von Jugendoffizieren und Karriereberatern der Bundeswehr überzeugt wurde: „Sie brachten quasi Comics. Die Kampagne war stark auf dieses Abenteuerliche, Wilde ausgelegt. Sie vermittelten dir, dass du als Soldat absolut männlich und kämpferisch sein würdest. Damals sagte mir das zu.“ Sebastian verließ die Truppe nach eigenen Angaben mit einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung.

Der Achtklässler Janne ließ sich durch die Bundeswehr-Serie „Die Rekruten“ auf der Social-Media-Plattform YouTube begeistern und wurde mit 16 Jahren von einem Karriereberater in die Truppe gelockt. „Ich hatte schon immer den Wunsch, Menschen zu helfen. Ich wollte etwas bei der Bundeswehr machen, wobei ich die Welt sehe und mit Menschen in Kontakt bin.“ Nach nur einer Woche Grundausbildung verließ Janne die Bundeswehr rechtzeitig. Wer die Probezeit verstreichen lässt und sich verpflichtet, kann später nicht einfach kündigen. Das wird beim Beratungsgespräch allerdings nur zwischen den Zeilen vermittelt.

Heute versucht das Bündnis „Unter 18 nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr!“ seine Forderungen gegen die Politik einer militärischen Zeitenwende und das Primat der Kriegsertüchtigung durchzusetzen. Immerhin will der SPD-Pragmatiker und Hochrüstungsminister Boris Pistorius die Armee um 20.000 auf gut 200.000 Soldaten vergrößern. Dabei erhält das Bündnis prominenten Zuspruch, auch aus den Reihen der bürgerlichen Parteien: Sowohl der ehemalige Bundeswehrsoldat Falko Droßmann (SPD) als auch Merle Spellerberg von den Grünen, beide Bundestagsabgeordnete und Mitglieder des Verteidigungsausschusses, sprechen sich für den Straight-18-Standard aus. Dass diese Stimmen nach der Wahl im Februar marginal bleiben und tendenziell verstummen, scheint in Anbetracht der Wahlprogramme aller regierungswilligen Parteien und der Debatte um eine neue Wehrpflicht ausgemacht. Es gilt eben: Kriegsfähigkeit, koste es, was es wolle. Dieser Logik die Jugend zu nehmen ist entscheidend.

Das Bündnis Unter 18 nie – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr informiert und berät Schüler, Eltern und Lehrer ebenso wie Sozialarbeiter beim Umgang und Widerspruch gegen die Rekrutierungspraxis der Bundeswehr. Weitere Informationen gibt es unter unter18nie.de.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"„Ein bisschen Abenteuerspielplatz“", UZ vom 10. Januar 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Auto.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit