Ach, der Linksradikale schon wieder.“ Maurizio Caffo kennt solche Reaktionen, wenn er Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen führt. Seine Analysen und Vorschläge sind andere als die, die in den großen Medien stehen oder dem entsprechen, was manchmal der „gesunde Menschenverstand“ genannt wird. Caffo ist Kommunist. Er ist überzeugt, dass seine Kollegen im Bahnkonzern ein Teil der Arbeiterklasse sind und dass diese Klasse sich zu einer Kraft entwickeln kann, die die kapitalistische Gesellschaft umwälzt. Seine Partei ist die DKP, die bei der letzten Bundestagswahl gerundet auf 0,0 Prozent der Stimmen kam. Für diese Partei kandidiert Caffo bei der kommenden Wahl und über sie sagt er: „Wir sind zwar wenige – aber mit dieser Partei kann man etwas erreichen.“
Caffo arbeitet bei DB Systel, dem IT-Unternehmen der Deutschen Bahn. Dort hat er seine Ausbildung zum Fachinformatiker gemacht, dort hat er auch gearbeitet, während er Informatik studiert hat. Inzwischen ist er Technischer Architekt und koordiniert selbst Projekte in der digitalen Steuerung der Fahrzeuginstandhaltung. Seinen Beruf macht er gerne: „Bei dieser Arbeit lernt man viel über die Technik im Bahnverkehr, man muss immer am Ball bleiben. Und es ist eine sinnvolle Arbeit, die Bahn ist gesellschaftlich notwendig – man macht was Reelles, nicht nur zum Geldverdienen.“
Er sieht es als seine Aufgabe, immer wieder die Diskussionen über große Politik, über die gesellschaftlichen Verhältnisse anzustoßen – schon deshalb, weil er die Erfahrung gemacht hat: So kann er dazu beitragen, dass die Kollegen sich für die gemeinsamen Interessen einsetzen statt jeder für sich. „Alle sehen, dass es so nicht weitergehen kann – nur: In welche Richtung kann es gehen?“ Aus seinen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen erzählt er: „Die Leute wissen, dass die Ärmeren die Lasten der Pandemie tragen müssen. Sie sind für linke Veränderungen, aber sie glauben nicht, dass das umsetzbar ist.“ Deshalb schreibt er für die Zeitung der EVG-Betriebsgruppe auch politische Artikel, zum Beispiel gegen die Kriegspolitik der Regierung. Deshalb diskutiert er über das, was manche für verstaubtes Marxisten-Dogma halten. „Wenn die Leute nur an einzelnen Stellen Kritik äußern oder sich irgendwelche Theorien zusammenreimen, werden sie nicht aktiv für ihre eigenen Interessen.“
Bei Lenin ist dieser Gedanke so formuliert: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben“, und er ist der Ausgangspunkt, von dem aus Lenin begründet, warum eine marxistische Partei nötig ist: Die naheliegenden Theorien, die verbreiteten Vorurteile, die kurzsichtigen Lösungsvorschläge – Lenin spricht von „Spontanität“ – führen immer wieder dahin zurück, den Kapitalismus zu akzeptieren und den Blick zu verstellen, wie eine andere Gesellschaft erreicht werden kann. Gerade dort, wo arbeitende Menschen ihre Lage verbessern wollen, sollen die Mitglieder dieser Partei andere von ihrer wissenschaftlichen und revolutionären Weltanschauung überzeugen.
Zu den naheliegenden Theorien gehören die „Querdenker“-Erzählungen. Caffo erzählt von einer Kollegin, die wütend darüber war, dass die Regierung während der Lockdowns die Kinderbetreuung auf Eltern wie sie abgewälzt hat – und die reagiert hat mit der Haltung: „Ich weiß nicht, ob Corona wirklich so schlimm ist.“ Caffo erzählt, wie er gefragt hat: „Wer profitiert denn von der Lockdown-Politik?“ „Am Ende der Diskussionen ist die Kollegin in die Gewerkschaft eingetreten. Man muss immer deutlich machen: Einige profitieren von euren Problemen, einige werden reich daran.“
Zu den naheliegenden Theorien gehört das, was der Bahnkonzern den Beschäftigten erzählt. „Der Konzern instrumentalisiert die Umweltfrage, die Bahn stellt das so dar: Wir haben alle ein Ziel. Da ist immer die Rede von der nötigen Transformation, von der neuen Arbeitswelt“, berichtet Caffo. Und er berichtet, wie sie mehr in der gleichen Zeit arbeiten sollen, wie sein Team sich ein halbes Jahr auf eine Prüfung vorbereiten musste, um zu zeigen, dass sie die Umstrukturierung des Unternehmens mitmachen – „Quality Check“ nennt die Unternehmensleitung diese Prüfungen, „Definition of Done Transformation“ das, was Caffos Team nachweisen musste. „Jedes Team muss beweisen, dass es wirtschaftlich ist, jeder muss alles können, was auch die Kollegen können – ohne dass man die Zeit hat, sich zu qualifizieren. Wenn man rentabel ist, ist man autonom – wenn nicht, hat man gelitten. Da wird eine Konkurrenz zwischen den Teams oder den Kollegen aufgebaut.“
Zu den naheliegenden Theorien gehört auch: Wenn ich mich gegen meine Kollegen durchsetze, gehöre ich zu den Gewinnern. Und: Jüngere Mitarbeiter verdienen für die gleiche Arbeit oft weniger, das Unternehmen gibt lieber Aufträge an externe Dienstleister, als in die Schulung der jungen Mitarbeiter zu investieren. Was als Generationenkonflikt erscheint, stellt Caffo dar als Politik des Unternehmens, um Geld zu sparen und Konkurrenz zu fördern.
Caffo sieht es als einen Erfolg der Gewerkschaft, dass sie auch in der Pandemie dafür sorgen konnte, dass die Arbeitsplätze gesichert werden. Er berichtet von dem, was die Beschäftigten mit Gewerkschaft und Betriebsrat für sich erreichen konnten – Pausen auch dann, wenn im Home-Office eine Besprechung direkt auf die nächste folgen soll. Wie er sich gemeinsam mit Kollegen gegen die Überlastung wehren konnte. Wie er – damals Mitglied der JAV – sich dafür eingesetzt hat, die Ausbildung zu verbessern. „Inzwischen gibt es Ausbildungslabore für die Azubis. Das haben wir mit der JAV erkämpft.“
Zu den naheliegenden Theorien gehört die Vorstellung, dass Konzern und Beschäftigte „Sozialpartner“ seien – eine Vorstellung, die auch in der EVG verwurzelt ist. Aber auch die Vorstellung, eine Berufsgruppe oder ein Berufsstand könne mehr erreichen, wenn sie die Solidarität mit den anderen Beschäftigten kündigt, ist eine der vielen naheliegenden Theorien – im Bahnkonzern steht dafür die GDL. Die Konkurrenz der Gewerkschaften nutze dem Konzern, schätzt Caffo ein – auch innerhalb der EVG: „Die EVG-Führung ist mit der Geschäftsführung einig gegen die GDL. Man redet über die Schwächen der GDL, um von eigenen Fehlern abzulenken.“
Die Vorschläge, den Bahnkonzern aufzuteilen, sieht Caffo als weitere Ausrichtung der Bahn am Profit – „der Konzern darf nicht zerschlagen werden“. „Wir wollen, dass die Bahn für die Leute im Land zuständig ist, nicht für die Interessen von Banken und Konzernen und nicht dafür, die Kriegspolitik der Bundesregierung möglich zu machen“, sagt er – und ist damit kein linksradikaler Außenseiter: „Das ist eine Diskussion, die wir häufig führen, und da sind sich die meisten Kolleginnen und Kollegen einig: Die Bahn sollte ein öffentliches Non-Profit-Unternehmen sein.“
Gegen die naheliegenden Theorien stellen Caffo und die DKP die Analysen und Ideen des Marxismus – und haben dabei nicht nur eine ferne Revolution im Sinn. Caffos Erfahrung ist: „Wer sich nur darum kümmert, mehr Lohn oder mehr Freizeit zu bekommen, tritt vielleicht in die Gewerkschaft ein, aber er macht da nichts. Die Leute werden nur aktiv, wenn man ein höheres Ziel aufzeigt.“