Vom 6. bis 12. September führt das Bündnis „AufRecht bestehen“ eine bundesweite Aktionswoche durch, um gegen die zunehmende Armut sowohl in der erwerbstätigen als auch in der erwerbslosen Bevölkerung zu protestieren und vor allem seiner Forderung nach Abschaffung des Hartz-IV-Systems Nachdruck zu verleihen. UZ sprach mit Jürgen Aust. Er ist seit 2005 mit Beginn von Hartz IV an drei Tagen in der Woche in Duisburg in der Sozialberatung aktiv. Bis zu seiner Pensionierung war er als Anwalt mit den Schwerpunkten Sozial-, Ausländer- und Asylrecht tätig. Er ist Mitglied im BundessprecherInnenrat der Antikapitalistischen Linken (AKL) und war von von 2010 bis 2020 im Landesvorstand der NRW-Linkspartei zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
UZ: Sie engagieren sich seit Jahrzehnten politisch gegen Sozialabbau und Armut. Welche Erfahrungen haben Sie aktuell gemacht: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Bezieher sogenannter staatlicher Transferleistungen ganz praktisch ausgewirkt? Und waren die Jobcenter und Arbeitsagenturen während der „Lockdown“-Maßnahmen für die Betroffenen gut erreichbar?
Jürgen Aust: Die Pandemie hat sich zu einem großen Teil verheerend ausgewirkt. Da die Jobcenter ab 1. März 2020 für den Besucherverkehr geschlossen wurden, konnte ein großer Teil der Betroffenen seine Anliegen nicht mehr persönlich vortragen, sondern war gezwungen, dies über die Hotline oder aber per Mail zu machen. In der Sozialberatung mache ich aber immer wieder die Erfahrung, dass eine hohe Zahl dieser Menschen überhaupt keinen Internetzugang hat oder aber über kein Kontoguthaben für ihr Handy verfügt. Sie sind damit faktisch nicht in der Lage, ihr Problem mündlich oder schriftlich vorzutragen, was dazu führt, dass sie sich quasi ihrem Schicksal ergeben mit der Folge, über einen längeren Zeitraum ohne Geld dazustehen beziehungsweise ihre Miete nicht rechtzeitig bezahlen zu können.
UZ: Gibt es auch etwas, was sich für Erwerbslose aufgrund der „Lockdown“-Maßnahmen positiv entwickelt hat?
Jürgen Aust: Ja, das gibt es, aber praktisch nur für diejenigen, die erstmalig einen Hartz IV-Antrag gestellt haben. Bei ihnen wurde die Überprüfung der Angemessenheit der Wohnkosten für die ersten sechs Monate nach Antragstellung ausgesetzt und eine Vermögensprüfung findet nicht statt, es sei denn, das Vermögen ist „erheblich“. Diese Regelung wurde inzwischen bis zum 31. Dezember 2021 verlängert. Alle anderen, also diejenigen, die bereits vor Corona Hartz-IV-Leistungen bezogen haben, wurden von dieser Regelung ausgeschlossen. Im Ergebnis war es eher ein politischer Propaganda-Effekt, mit dem der Öffentlichkeit suggeriert werden sollte, die Regierung würde ja nicht nur für die Großkonzerne, sondern auch für die von Armut gefährdeten Menschen etwas tun. Diese gingen aber bis auf eine Einmal-Zuwendung von 150 Euro und eine kürzlich beschlossene 100-Euro-Zuwendung für Eltern mit Kindern völlig leer aus.
UZ: Und wie bewerten Sie den Umgang mit Erwerbslosen politisch?
Jürgen Aust: Zunächst ist es für mich wichtig, noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass die gewissermaßen „Zerschlagung“ des bisherigen Sozialsystems bereits in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder von den Kapitalfraktionen und Unternehmerverbänden gefordert wurde, wonach der Sozialstaat angeblich zu kostspielig sei und von den Betroffenen mehr „Eigenverantwortung“ eingefordert werden müsse. Bekanntlich saßen in der sogenannten Hartz-Kommission, die von der Regierung von Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) den Auftrag erhielt, diese Forderungen umzusetzen, mit Vertretern von McKinsey und der Roland-Berger-Gruppe weltweit operierende Beratungsfirmen, die seit Jahren für den schlanken Staat warben, also für eine Politik, die für weitestgehende Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Deregulierung arbeits- und sozialrechtlicher Standards stand.
Von dieser Politik haben sich insbesondere die CDU und die SPD bisher nicht verabschiedet. Die SPD hat zwar bereits 2019 ein Positionspapier mit der Losung „Hartz IV überwinden“ veröffentlicht, aber es bestand in erster Linie aus einigen Verbesserungen für Menschen, die im Arbeitsprozess stehen, aber das Hartz-IV-System wurde nicht ansatzweise korrigiert, geschweige denn abgeschafft.
UZ: Also bleiben Sie bei der Forderung, Hartz IV abzuschaffen? Und wie sähe dann Ihre Alternative aus?
Jürgen Aust: Ja, natürlich. Hartz IV war von Anfang an ein Massenverarmungsprogramm mit dem zentralen Zweck der Lohnsubventionierung, um die Tür für den Niedriglohnsektor weit aufzustoßen. Zu Spitzenzeiten hatten wir in Deutschland ca. 7,5 Mio. Minijobs, von denen kein Mensch auch nur annähernd leben kann. Nicht von ungefähr hat Deutschland im Verhältnis zu den anderen Kernländern in der EU den größten Niedriglohnsektor, wodurch ein großer Teil der Menschen gezwungen wird, ergänzend Hartz IV zu beantragen, um überleben zu können.
Deshalb ist die Losung „Weg mit Hartz IV!“ nach wie vor völlig richtig, sie bedarf aber konkreter Alternativen, also eine ausreichende monatliche Sozialleistung von mindestens 1.200 Euro, die auch die Mietkosten enthält. Wie bereits in Zeiten vor Hartz IV muss auch wie bei der alten Arbeitslosenhilfe das Kindergeld anrechnungsfrei sein und überhöhte Wohnkosten müssen durch ein ergänzendes Wohngeld aufgefangen werden. Aber „Hartz IV muss weg!“ muss selbstverständlich auch zu einem einheitlichen System der Arbeitsförderung zurückkehren, wie es vor Hartz IV jahrzehntelang der Fall war. Und schließlich muss es für ein halbwegs menschenwürdiges Sozialsystem selbstverständlich sein, jegliche Repression im Leistungs- und Fördersystem abzuschaffen.
UZ: Wie erklären Sie sich, dass die Themen Sozialabbau und Armut im aktuellen Bundestagswahlkampf bisher kaum eine Rolle spielen?
Jürgen Aust: Das hat meines Erachtens Gründe, die lange zurückliegen. Nachdem in den Jahren 2003/2004 über mehrere Monate eine größere Protestwelle erfolgte, gingen diese Proteste nach Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 deutlich zurück. In den Folgejahren ist es der Anti-Hartz-IV-Bewegung nicht mehr gelungen, den Widerstand gegen Hartz fortsetzen, was insbesondere auch damit zu tun hatte, dass die Gewerkschaften inzwischen ihren Frieden mit diesem System geschlossen hatten. Es existieren zwar von Anfang an zahlreiche sehr engagierte Initiativen, die lautstark und regelmäßig ihre Alternativen zum Hartz IV-Regime propagiert haben, aber es gibt nicht annähernd die Proteste im öffentlichen Raum, die zum Beispiel seit längerer Zeit die Klimabewegung zu einem unübersehbaren politischen Faktor gemacht haben. Dies wäre aber erforderlich, um substantielle Änderungen am Hartz-IV-System zu erreichen.
Allein mit richtigen Forderungen, wie sie zum Beispiel von der Linkspartei im Bundestagswahlkampf erhoben werden, kann das nicht funktionieren. Allerdings haben mehrere Organisationen und Initiativen zu einer bundesweiten Aktionswoche vom 6. bis 12. September aufgerufen, um ihren zen-tralen Alternativen zu Hartz IV Gehör zu verschaffen.
UZ: Nun steht zu befürchten, dass es im Nachgang an die Pandemie zu weiteren finanziellen Einschnitten für die unteren Erwerbsklassen kommen wird und diese die Kosten der Krise maßgeblich tragen sollen. Wie würde Ihr politischer Gegenentwurf aussehen? Wer soll die Kosten der Krise tragen?
Jürgen Aust: Diese Fragen waren bekanntlich auch ein zentrales Kampffeld in der Finanzkrise 2008/09, das mit der Losung verbunden war „Wir zahlen nicht für eure Krise!“. Es ist dem Unternehmerlager und seinen willfährigen Regierungsparteien seinerzeit nicht gelungen, die sozialen Standards noch weiter abzusenken, und wir können nur hoffen, dass dies auch jetzt nicht gelingt. Es wäre natürlich erforderlich, eine Kampagne zu entwickeln, die zentral eine deutlich höhere Besteuerung der Einkommen beinhaltet und insbesondere auch für eine Vermögensteuer, die ihren Namen verdient, zu starten.