Fünf Jahre nach Hanau: Gedenkstunden und falsche Sicherheitsdebatten schützen nicht vor rechtem Terror. Soziale Sicherheit und Kriegspolitik müssen in den Fokus rücken

Ein Anschlag, Angst und Aufrüstung

Ferat Koçak („Die Linke“) ist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Vor sieben Jahren verübten Neonazis einen Brandanschlag auf ihn und seine Familie, den er und seine Eltern nur durch Glück überlebten. Derzeit kandidiert Koçak für das Direktmandat zum Bundestag in Berlin-Neukölln. UZ sprach mit ihm über Erinnerungskultur, rassistische Politik und die sozialen Kosten der Hochrüstung.

UZ: Fünf Jahre nach dem Anschlag kommt die politische Prominenz zu einer Gedenkstunde nach Hanau. Wird die Aufarbeitung endlich ernst genommen?

Ferat Koçak: Das ist immer dasselbe. Wenn irgendetwas passiert, wenn Menschen sterben, dann sind alle sofort da. Alle schreien: „Hanau ist überall!“ Und dann passiert nichts. Der Anschlag ist für diese Politiker nur eine Plattform, um sich und der eigenen Partei Sichtbarkeit zu verschaffen auf Kosten der Betroffenen und der Überlebenden.

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Ferat Koçak

Es schmerzt schon sehr zu sehen, wie handlungsunfähig die Politik erscheint, wenn es um rechten Terror geht. Über Nacht können umfangreiche Beschlüsse gefasst werden, wie die zusätzlichen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Zugleich werden Demokratieförderprojekte extrem zusammengestrichen. Für die Bundeswehr ist Geld da, für die Aufrüstung ist Geld da, aber für den Kampf gegen rechts fehlt es auf einmal an allen Ecken und Enden. Da zeigt sich, dass es vielen Politikern nur darauf ankommt, sich selbst zu präsentieren.

Das betrifft die ganze Erinnerungskultur. Es reicht nicht, einfach nur „Nie wieder!“ zu sagen und dann aber eine rechte Politik zu machen, die auch die AfD immer weiter stärkt. Als Scholz gesagt hat: „Wir müssen im großen Stil abschieben“, waren die Grünen dabei. Die Ampel hat mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem faktisch das Asylrecht abgeschafft. Eben das Recht, das auf den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust beruht.

Nun wird über die Brandmauer diskutiert. Und klar muss man kritisieren, wenn CDU und AfD gemeinsame Sache machen. Aber was ist mit dem Inhalt des Antrages, um den es dabei im Bundestag ging? Darüber wollte keiner reden. Warum? Weil viele Entscheidungen, die zuletzt getroffen wurden, nicht weit davon entfernt waren. Es wird eine Stimmung geschaffen, die rechten Terror salonfähig macht. Die Nazis setzen das um, was ihr parlamentarischer Arm sagt. Aber die Worte der AfD werden bekräftigt durch die Politik der anderen bürgerlichen Parteien.

UZ: Dazu passt, dass sich auch Innenministerin Nancy Faeser am Gedenken beteiligt …

Ferat Koçak: Nancy Faeser hat diese Stimmung in den vergangenen Jahren mit angeheizt, hier in Neukölln auch zusammen mit unserem Bürgermeister Martin Hikel. Ich erinnere an die ganzen Razzien im migrantischen Gewerbe. Der Hanauer Attentäter hat sich nicht aus heiterem Himmel eine Shisha-Bar ausgesucht. Der hat die Message der Politik aufgenommen: Da sitzen die bösen, migrantisch aussehenden Menschen. Genau deshalb finde ich das scheinheilig.

Andererseits verstehe ich die betroffenen Familien. Sie hoffen auf Unterstützung und darauf, dass so ein Besuch vielleicht ein Möglichkeitsfenster ist, um Veränderungen anzustoßen. Als jemand, der selbst von rechtem Terror betroffen war, kann ich das nachvollziehen. Ich nehme Polizei, Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz immer wieder in die Mangel – vor allem im Zusammenhang mit Rechtsterrorismus und Rassismus. Aber in der Nacht, in der der Anschlag passiert ist: Was hätte ich da machen sollen? Ich war glücklich, dass die Polizei da war. Und das ist diese Hoffnung, die man in solchen Momenten hat, weil man nicht weiß, was man sonst machen soll. Das kann man den Betroffenen nicht nehmen. Gleichzeitig müssen wir als politische Menschen und Antifaschisten den Finger in die Wunde legen.

UZ: Im aktuellen Wahlkampf ist die „innere Sicherheit“ ein beliebtes Thema. Bei rechtem Terror und Gewalt gegen Migranten hat der Staat regelmäßig versagt oder war sogar beteiligt. Kann es da überhaupt ein glaubwürdiges Schutzversprechen geben?

Ferat Koçak: Mir ist es wichtig, Sicherheit mal ganz anders zu denken. Sicherheit bedeutet auch soziale Sicherheit. Nur Menschen, die eine Perspektive haben und einen festen Boden unter den Füßen, können sich sicher fühlen. Wir waren hier in Neukölln an über 100.000 Haustüren. Wir haben mit knapp 40.000 Menschen gesprochen. Und dabei wird klar: Egal ob du einen Migrationshintergrund hast oder nicht, egal ob du AfD wählst oder eine andere Partei – die Probleme sind die gleichen. Dazu gehören die explodierenden Mieten, die Lebenshaltungskosten und die Preise in den Supermärkten. Die ganze Kürzungspolitik hier in Berlin führt dazu, dass die Krankenhäuser, die Schulen und der Nahverkehr nicht mehr funktionieren. Der Müll landet auf den Straßen und die Stadtreinigung kommt nicht mehr hinterher, weil die Mitarbeiter schlecht bezahlt werden und es deshalb keinen Nachwuchs gibt. Das alles müsste Teil einer echten Sicherheitspolitik sein.

UZ: Hinzu kommen Angriffe auf die demokratischen Rechte. Politische Aktivitäten von Migranten gelten grundsätzlich als suspekt, besonders wenn sie einen palästinensischen oder kurdischen Hintergrund haben. Da passiert es, dass auf Demonstrationen die arabische Sprache verboten wird …

Ferat Koçak: Das ist genau das Bild, das diese Parteien der Privilegierten nach außen kommunizieren: Migrantische Menschen sind böse. Wir können ihre Grundrechte einschränken. Wir können mit staatlicher Gewalt brutal in ihre Demos reinhauen. Tante Erna, die in Süd-Neukölln lebt und die „B. Z.“ liest, bekommt solche Sachen mit und hat dann einfach Angst hat vor ihren Nachbarn. Mit den sozialen Kürzungen wird eine Politik im Inte­resse der Reichen gemacht, die dazu führt, dass es den meisten Menschen immer schlechter geht. Wer sich das Leben nicht mehr leisten kann, ist empfänglich für einfache Antworten und Rassismus.

UZ: Und diese rassistische Spaltung hilft dann, den sozialen Kahlschlag und die Rüstungspolitik durchzusetzen …

Ferat Koçak: Genau! Aufrüstung durch Angst. Wenn Menschen mir sagen: Wir brauchen Waffenexporte, wir müssen die Polizei aufrüsten, dann hat das viel mit Angst zu tun. Ich verstehe diese Angst, aber sie wird strategisch geschürt.

Ich meine, es ist doch augenscheinlich, dass sich der Wert der Rheinmetall-Aktie seit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza verdreifacht hat. Einen Tag, nachdem Trump mit Putin gesprochen hat, ist die Aktie kurzzeitig abgestürzt. Einfach nur durch ein Telefonat? Das ist ein deutsches Rüstungsunternehmen und, sorry, Deutschland hat zwei Weltkriege geführt, ist verantwortlich für Millionen Tote. Deutschland darf nie wieder am Krieg verdienen. Drei Jahre lang wurden Waffen exportiert. Hat das Frieden gebracht? Nein, die Menschen sterben weiterhin oder fliehen vor dem Militäreinsatz. Gleichzeitig werden hier 100 Milliarden in die Bundeswehr investiert. Und die Bundeswehr taucht an Schulen auf. Aber an welchen Schulen? Dort, wo Menschen leben, die wenig verdienen. Wie in den USA: Dort, wo die schwarzen Menschen sind. Die wurden als Kanonenfutter in den Irak geschickt und starben dort für politische, geostrategische und wirtschaftliche Inte­ressen. Das dürfen wir hier in Deutschland nicht zulassen.

UZ: Du hast beschrieben, wie sich Tante Erna fühlt. Wie wird die derzeitige Situation in der migrantischen Community wahrgenommen?

Ferat Koçak: Es gibt sehr viel Angst. Ich habe hier in Neukölln viele Gemeinden besucht. Überall herrscht Angst vor dem Rassismus, aber auch davor, was nach den Wahlen passiert. Da spielt es auch keine große Rolle, ob dann die AfD mit Merz regiert oder ob die CDU mit der SPD regiert. Wir hatten eine Ampel-Regierung. An der war die CDU nicht beteiligt und die AfD lag irgendwo bei 14 Prozent. Und auch in dieser Zeit wurde der Rassismus immer, immer schlimmer und haben die Menschen Repressionen erlebt. Aus so einer Situation heraus, in der sich Nazis politisch bestätigt fühlen, passiert so etwas wie in Hanau. Das war kein Einzelfall und ich glaube, Hanau wird auch kein Einzelfall bleiben. Wenn sich die Politik wirklich dafür interessiert hätte, dann wäre nach Mölln und Solingen und Rostock-Lichtenhagen so etwas nicht noch mal passiert. Die, die da nächste Woche Gedenkreden halten, interessieren sich für die Betroffenen und Hinterbliebenen, solange die Kameras laufen. Deren „Nie wieder!“ ist eine leere Phrase. Wichtiger ist, dass wir uns organisieren, dass wir für eine andere Politik stehen und auch Politik anders machen.

Meine Eindrücke in Neukölln geben mir aber auch Hoffnung. Menschen, die von der Politik nie repräsentiert wurden, politisieren sich und gehen auch wählen. Und insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte wissen, dass sie die ersten sind, die angegriffen werden, wenn es so weitergeht. Ich habe die Hoffnung, dass auf diese Politisierung auch das Handeln folgt – trotz der Angst, die allgegenwärtig ist.

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"Ein Anschlag, Angst und Aufrüstung", UZ vom 21. Februar 2025



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